Die sanfte Anfangsmusik von "Wonderful Life" füllte Lindas Kopf und sie formte mit dem Mund die Worte mit, die sie bereits inn und auswendig kannte. Sie saß in dem kühlen Keller ihrer Schule und ließ die Beine über das breite Fensterbrett baumeln. Den Kopf hatte sie an die kalte Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen. Sie hörte die Schritte und Rufe der Schüler nicht, die am anderen Ende des Gangs aus dem Fahrradkeller gestürmt kamen und die Treppen hinaufpolterten.
Es schien, als würden die Worte direkt in ihrem Kopf widerhallen. Die Instrumente schienen in ihrem Kopf zu sein und dort ihre Melodie zu spielen. Sie hörte nichts sonst. Und darum war sie sehr froh.
Sie seufzte und sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es waren nur noch fünf Minuten, bis der Unterricht begann. Sie nahm schweren Herzens die Ohrstöpsel heraus, wickelte den MP3-Player auf und verstaute ihn sicher in ihrer Schultasche. Dann sprang sie vom Fensterbrett, klemmte sich den Ordner unter den Arm und machte sich auf den Weg zu ihrem Klassenzimmer.
Die Schule war sehr groß, hatte zu viele Schüler und zu wenig Klassenzimmer, viele Lehrer und keinen Ort, wo man vor dem Gelärm der ganzen Schülerschar in Sicherheit wäre. Der Keller war der einzige relativ ruhige Ort, obwohl auch dort viele Schüler waren, wenn sie Informatik hatten.
Linda atmete tief durch und drängte sich mit zu Boden gesenkten Augen durch die Fünftklässler. Sowohl die Große und die Alte Aula waren voller Menschen. Rasch huschte sie die Treppen in den zweiten Stock hinauf und wartete vor dem Klassenzimmer, in dem sie nun Englisch haben würden. Sie mochte Englisch. Und Kunst. Und Psychologie.
Heute war der erste richtige Schultag. Noch zwei Jahre und sie würde das Abitur machen. Sofern sie das Schuljahr überstand.
Es dauerte nicht lange, bis alle Schüler des Englischkurses anwesend waren und sich abseits in Gruppen aufstellten.
Linda beachtete sie nicht, sondern ging in Gedanken den Text des Liedes, das sie eben gehört hatte, durch.
"Never give up ... it's such a wonderful life...", murmelte sie vor sich hin und versuchte, diese Worte auf ihr Leben zu übertragen. Aber es gelang ihr nicht ganz.
Dann erschien der Lehrer und sie betraten das Klassenzimmer. Linda suchte sich einen Platz weiter vorne aus und setzte sich in die dritte Reihe am Fenster. Sie liebte die Fensterplätze.
Natürlich setzte sich keiner der anderen neben sie. Es gab genug freie Plätze, weshalb sollten sie sich also ausgerechnet neben sie setzten? Sie seufzte stumm und stützte das Kinn in die Hände und schaute nach draußen. Der Himmel war ein wenig bewölkt und es ging ein kalter Wind, der die losen Blätter von den bunten Bäumen herunterriss und fort wehte. Sehnsüchtig blickte sie ihn hinterher.
Der Unterricht begann und der Englischlehrer sagte alle Namen auf, um die Anwesenheit zu kontrollieren. Als Linda aufgerufen wurde, sagte sie nur: "Hier." und schaute dann wieder nach draußen.
Während der Lehrer von organisatorischen Dingen sprach, hörte Linda nicht zu. Das alles hatten sie schon letzte Woche von anderen Lehrern gehört. Sie betrachtete die Bäume, die sich leicht im Wind hin und her bewegten.
"Linda."
Ihr Kopf zuckte herum und sie starrte direkt in die Augen des Lehrers. Er hatte sehr helle blaue Augen und dunkles strubbeliges Haar. Erstaunlich jung war er und - wie die meisten Mädchen wohl schon längst erkannt hatten - gut aussehend.
Doch all das wurde bald von einem leicht angesäuerten Gefühl in ihrer Magengegend verdrängt und stimmlose Gedanken rasten durch ihren Kopf: "Wieso passen die Schüler heutzutage nie auf? Und das am ersten Tag. Und wieso sitzt sie allein? Wahrscheinlich ein Außenseiter. Ich sollte nicht voreilig sein. Vielleicht hat sie nur nicht so viele Freunde. Ist etwas schlimm daran?"
Lindas Kehle schnürte sich zu und sie musste alle Macht über ihren Körper aufbieten, um den Blick von den blauen Augen wegreißen zu können.
"Tut mir Leid", sagte sie und starrte auf die dreckige Wand vor sich. Das verärgerte Gefühl in ihrem Bauch war verschwunden und die Gedanken waren wieder die ihren.
"Schon gut. Pass das nächste Mal einfach auf, ja?"
Sie nickte und hörte vereinzeltes Gekicher von hinten. Aber sie achtete nicht darauf. Der Lehrer fuhr mit dem Unterricht fort und Linda schluckte schwer. Sie hatte es schon wieder getan. Sie wusste es und warum hatte sie es dann schon wieder gemacht?
Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt.
Sie seufzte. Nun ja, jetzt war es eben mal passiert und sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Seufzend wiederholte sie seine Worte in ihrem Kopf ...Wahrscheinlich ein Außenseiter... wieso sitzt sie alleine...nicht viele Freunde...Linda schluckte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sich mit dem Schulwechsel etwas veränderte, aber eigentlich...sie war immer noch die Außenseiterin. Das spürte sie. Wieder hatte sich niemand neben sie gesetzt. Wieder sah sie nur beschämt fort.
Traurig begann sie in ihr leeres Heft zu kritzeln, was aufgeschlagen vor ihr lag. Kreise, Striche, Smilies, Herzen, Sterne, das Haus vom Nikolaus...nichts bestimmtes.
" Ah Linda."
Sie zuckte zusammen: Nicht schon wieder eine Ermahnung.
" Sehr gut, du machst dir Notizen. Nehmt euch ein Beispiel." Puh...gerade so noch mal davon gekommen...ihre Kritzeleien waren nun also Notizen? Amüsant.
Dumm nur, dass das ihrem Beliebtheitsquotienten nicht gerade gut tat. Im Gegenteil sie hörte schon wieder Getuschel. Was sie wohl denken mochten? Dass sie eine blöde Streberin sei, und sowieso seltsam? Ein Blick würde ausreichen, um diese Frage zu beantworten...
Ihr Kopf bewegte sich bereits nach rechts, doch dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und zwang sich, wieder auf ihr voll gekritzeltes Blatt zu starren. Was kümmerte es sie, was die anderen dachten? Wieso wollte sie die Feindseligkeit, die in ihren Blicken lag, körperlich spüren und im Geiste hören? Das brauchte sie sich nun wirklich nicht auch noch anzutun. Reichte ja schon, dass der Lehrer sie als Freak abgestempelt hatte, auch wenn er sie gerade irgendwie gelobt hatte...Aber das half ihr auch nicht gerade viel.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Stunde endlich aus war. Die Schüler stürmten alle gleichzeitig nach draußen und Linda wartete, bis sie alle verschwunden waren, erst dann schulterte sie ihre Tasche und ging auf die Tür zu.
"Wartest du noch bitte einen Moment, Linda?", ertönte eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich erschrocken um. Der Lehrer - wie hieß er denn noch gleich?! - packte immer noch seine Sachen zusammen und blickte auf. Rasch senkte sie den Blick und biss sich auf die Lippe. Sie wollte seine Gedanken kein zweites Mal hören.
"Du bist neu hier, oder?", fragte er und trat neben sie. Sie widerstand dem Drang, ihn anzuschauen und nickte nur stumm. Dann hörte sie ein amüsiertes Lachen und aus reiner Neugierde hob sie den Kopf. Er war ungefähr nur einen Kopf größer als Linda selbst und bei seinem Lachen verengten sich die blauen Augen zu kleinen Schlitzen. Grübchen bildeten sich in seinen Wangen.
"Trifft sich gut. Ich auch. Ich habe fast meine erste Stunde hier verpasst, weil ich nach einem Klassenzimmer suchen musste. Diese Pläne sind ja auch nicht gerade hilfreich", plauderte er munter drauf los und ging vor ihr aus der Tür. Sie starrte auf seinen Rücken und fragte sich, was er eigentlich von ihr wollte. Ein unangenehmes Kribbeln ergriff von ihr Besitz und sie verzog das Gesicht. Irgendwie war er ihr unheimlich.
Stumm folgte sie ihm nach draußen und wandte sich nach rechts. "Mein Klassenzimmer liegt hier drüben", sagte sie, ohne ihn anzusehen, und deutete mit dem Daumen über die Schulter, als wäre das eine Entschuldigung, dass sie ihn nicht begleiten könne, wie er es vielleicht von ihr erwartet hatte.
Komischer Lehrer, dachte sie.
"Oh, ok. Wir sehen uns dann später."
"Ja."
Sie wartete einen Moment, dann schaute sie auf. Er stand noch immer vor ihr und blickte sie nachdenklich an. Ein Stich der Überraschung durchfuhr sie und es war, als würden seine blauen Augen sie regelrecht festhalten.
Zu ihrer eigenen Überraschung kam noch Neugierde hinzu, die nich von ihr stammte.
"Wieso schaut sie einen nie an? Ist sie etwa derart schüchtern? Aber sie ist doch ein nettes Mädchen, oder nicht? Trotzdem ein wenig komisch..."
Rasch riss sie sich von seinem Blick los und es blieb nur Leere in ihr zurück.
"Ich geh dann mal", sagte sie mit monotoner Stimme und wandte sich um. Sie konnte beinahe körperlich den Blick in ihrem Nacken spüren, was sie nur dazu brachte, noch schneller zu laufen, bis sie fast rannte. Als sie im angrenzenden Klassenzimmer angekommen war, atmete sie erleichtert auf.
Sie würde vorsichtiger sein müssen. Sie wollte von ihren Fähigkeiten so wenig wie möglich Gebrauch machen.
Sie wollte normal sein, wie all die anderen Mädchen in ihrem Alter auch.
Von ganzem Herzen.
Fast musste sie lachen.
Es gab keine Chance für sie "normal" zu sein, wenn sie niemals einem Menschen ins Gesicht sehen konnte. Sogar dem Lehrer war das aufgefallen. Sie würde nicht normal sein, solange sie den Blick zu anderen scheute. Blickkontakt ist alles, das A- und O eine Freundschaft, hatte mal irgendwer gesagt. Vielleicht ihre Mutter.
Sie musste unbedingt gegen diese Gabe ankämpfen. Es konnte doch nicht sein, dass sie jedes Mal Gedanken lesen konnte, wenn sie Jemanden ansah, das war nicht fair!
Vielleicht sollte sie es mal mit einer Brille probieren., schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht würde es die Gabe hemmen. Eine Blockade zwischen ihrem Auge und der Person vor ihr errichten...
Während sie sich ihren gewohnten Platz am Fenster erkämpfte, dachte sie darüber nach. Ihr Vater hatte eine Brille, die er kaum trug. Eine hässliche, dicke Hornbrille. Aber sie musste ja nur mal testen, ob das überhaupt funktionierte. In ihr regte sich etwas, das sich wie Hoffnung anfühlte. So etwas hatte sie schon lange nicht mehr gespürt.
Der Lateinunterricht war tödlich langweilig, obwohl sie doch einiges mitbekam und sich sogar einmal gemeldet hatte, um einen ihrer kaum verständlichen Unterrichtsbeiträge abzuliefern.
Am Ende stürtem sie alle in die Pause und Linda war mal wieder die Letzte, die das Klassenzimmer verließ. Sie schlenderte in Richtung Schließfächer und kramte währendessen ihren Schlüssel aus den Untiefen ihrer Schultasche. Sie hasste es, wenn sie ihren Schlüssel nicht fand.
Als sie ihn dann endlich in Händen hielt, wurde sie heftig von hinten angerempelt und ihr flog der Schlüsselbund aus den Händen. Und landete direkt vor ein Paar schwarzen Stöckelschuhen.
"Huch!", hörte sie jemanden ausrufen und eine Hand mit roten Fingernägeln langte nach dem Schlüssel und hob ihn auf. Dünne Beine, eine schwarze Leggins, ein dunkles Shirt, das knapp über den Hintern reichte und einen tiefen Ausschnitt hatte. Dunkelbraunes, gewelltes Haar und einen rot angemalten Mund.
"Gehört der dir?", fragte das Mädchen und hielt ihr den Schlüssel hin. Linda nickte und nahm ihn.
"Danke."
"Kein Problem. Manche Schüler sind wirklich unhöflich, findest du nicht?", trällerte die Stimme weiter und die Hand legte sich auf die Hüfte. Linda lächelte schwach und nickte.
"Ja. Das stimmt wohl." Sie schloss ihren Spind auf, zog ein paar Bücher heraus und schloss ihn dann wieder. Das Mädchen stand immer noch vor ihr und Linda fragte sich bereits, was sie eigentlich von ihr wollte. Niemand redete mit ihr. Das war schon immer so gewesen. Keiner wollte mit ihr reden und jeder, der es doch tat, wurde als Außenseiter abgestempelt und gehänselt. Und wieso sollte sich jemand mit ihr unterhalten wollen? Sie sah ihnen ja grundsätzlich nicht in die Augen.
Doch dann erinnerte Linda sich daran, was ihr noch vor einer Stunde durch den Kopf gegangen war.
Langsam hob sie den Kopf und blickte dem Mädchen in die Augen. Sie waren dunkel - wie fast alles an ihr - und sehr groß.
Natürlich hatte Linda sich für irgendeine Art Veränderung ihrer derzeitigen Gefühle gewappnet, aber dennoch überkam sie ein freudiges Gefühl und helle Gedanken durchströmten ihren Geist.
"Sie sieht ein bisschen zerrupft aus. Kämmt sie sich in der Früh? Aber sie hat schöne Augen. Mit ein bisschen Wimperntusche und Maskara könnte man da noch viel mehr draus machen. Sie ist so blass. Vielleicht noch ein bisschen Rouge, dann kommt da mehr Pepp rein."
Linda musste sich ein Lachen verkneifen, als sie die Gedanken des Mädchens in ihrem Kopf hörte. Sie hörte sich an, als wäre Linda eine Versuchspuppe, an der man verschiedene Schminktechniken ausprobieren könnte.
Aber kein einziger feindseliger Gedanke.
Für gewöhnlich hätte Linda nun den Blick abgewandt, aber sie starrte dem Mädchen in die dunklen Augen und versuchte, auf irgendeine Art, die Gedankenflut einzudämmen und die Freude des Mädchens beiseite zu drängen. Ihre Brauen zogen sich zusammen, so sehr kämpfte sie dagegen an, doch es half nichts.
"Warum starrt sie mich so an? Oh mein Gott! Habe ich etwas im Gesicht? Hilfe! Wenn Justin mich so gesehen hat, bin ich erledigt! Ich muss ganz schnell aufs Mädchenklo!"
Linda blinzelte verwirrt und Panik krallte sich in ihrem Magen fest.
Das Mädchen lächelte rasch und winkte ihr zu. "Sorry. Ich muss leider wohin."
"Ja, schon gut", erwiderte Linda traurig und senkte den Blick, während das Mädchen an ihr vorbeirauschte. Es hatte doch nichts geholfen. Natürlich hatte sie es schon ein paar Male probiert, aber auch da war nichts Spektakuläres passiert. Weshalb hatte sie gedacht, würde es diesmal anders sein?
Sie seufzte, stellte die Bücher zurück in den Spind und verstaute den Schlüssel dann wieder in ihrer Tasche. Würde das mit der Brille dann auch nicht klappen? Linda hatte sich nie über Dinge, die ihre Fähigkeit betrafen, schlau gemacht. Sie hatte Angst davor gehabt. Sie hatte auch nie ihren Eltern etwas davon erzählt. Besonders nicht ihrer Mutter...
Mit gesenktem Kopf zwängte sie sich durch die Schülerschar in Richtung Bibliothek, wo es einigermaßen ruhig zuging. Sie steuerte in Richtung der Englischen Literatur und durchstöberte die Regale. Auch nichts neues. Aber sie fand ein Buch von Stephen King, das sich sehr interessant anhörte. Sie setzte sich in einen der roten Sessel und begann zu lesen.
Linda liebte Bücher.
In ihnen konnte sie sich vor der Realität verstecken. Das mochte für die meisten Menschen zwar nicht gerade positiv sein, aber für sie schon. Sie musste dann nicht an ihre Zukunft denken, an ihr Zuhause, ihr Leben.
Während sie las, lächelte sie ein wenig und vergaß beinahe die Zeit, als der Schulgong laut ertönte. Sie zuckte zusammen und stieß ein Seufzen aus.
Der Vormittag dauerte noch drei Schulstunden, dann war sie erlöst. Manchmal, wenn es schönes Wetter war, setzte sie sich nach draußen auf den Pausenhof und hörte Musik, aber heute war es kalt und windig.
"Hey! Du bist doch das Mädchen von vorhin, stimmt's?"
Linda drehte sich überrascht um und erkannte das Mädchen von heute Morgen, das ihr den Schlüssel aufgehoben hatte. Sie stand mit ein paar anderen Mädchen zusammen, die sich unterhielten. Bei dem Ausruf des Mädchens wandten sich alle Köpfe in Lindas Richtung, die den Blick senkte. Sie mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.
"Ja."
Geklacker ertönte, als das Mädchen auf sie zukam.
"Kann es sein, dass wir zusammen Bio haben?", fragte sie und blieb einen Schritt vor Linda stehen. Diese dachte nach und lächelte dann.
"Kann schon sein, ja."
Keine Antwort.
"Eh...deine Freundinnen warten. Ich geh besser", fing Linda an, doch plötzlich wurde sie am Oberarm gepackt und vollkommen überrumpelt erkannte sie, dass das Mädchen sich bei ihr untergehagt hatte. Linda schaute sie mit großen Augen an.
"Du bist immer so allein. Komm doch mit uns. Die anderen haben sicher nichts dagegen. Ach, übrigens. Ich heiße Annita. Und du?"
"Eh...", begann Linda sehr geistreich. "Linda."
"Schöner Name!", rief Annita aus und zog sie mit sich zu den anderen Mädchen hinüber, die die beiden schon neugierig beobachteten. Es waren ausschließlich Schönheiten. Solche, die man auf irgendwelchen Covers von Frauenmagazinen sah. Sofort beschlich Linda ein ungutes Gefühl und am liebsten hätte sie sich von Annita losgerissen und wäre in die andere Richtung gestürmt. Nur weg von hier.
Aber sie wagte es nicht. Was würden die anderen von ihr denken? Würde Annita jemals wieder mit ihr reden? Vermutlich nicht. Unbemerkt atmete sie tief durch und hob ein wenig den Blick.
"Leute, das ist Linda."
"Hey!", rief eine aus und griff sofort nach Lindas Hand. Gänzlich überrumpelt starrte sie dem Mädchen in die runden großen Augen.
"Wieso gibt Annita sich mit so einer ab? Sind wir ihr nicht mehr gut genug? So eine dumme Kuh. Ich mochte sie ja noch nie." Verärgerung breitete sich in Linda aus. Verwirrtheit krallte sich in ihren Gedanken fest.
Sie sog die Luft ein und blinzelte. Das verärgerte Gefühl verflog augenblicklich.
"Hi."
Die anderen sagten kein Wort und fingen an, sich mit Annita zu unterhalten, als hätte nichts sie gestört. Doch Linda warf einen raschen Blick auf das Mädchen, das sie mit Händedruck begrüßt hatte. Es hatte blond gefärbte, lange Haare, war stark geschminkt und trug einen Rock, der kürzer als kurz war. Eine rote Handtasche baumelte an ihrem rechten Arm. Sie lächelte Annita zuckersüß an, doch hinter ihren Augen erkannte Linda die Feindseligkeit und Bosheit, die den anderen verborgen blieb.
Linda mochte sie nicht.
Überhaupt nicht.
"Hey, sollen wir uns in die Aula setzen?", fragte Annita plötzlich und wandte sich zu den anderen um. "Linda, was meinst du?"
Diese hob den Kopf und sah sich um. "Ich weiß nicht. Wenn ihr wollt..."
"Klar wollen wir", lachte die Falsche auf und hakte sich bei Linda unter. Linda wagte es nicht, sie direkt anzusehen. Ihr graute vor den Gedanken des Mädchens.
"Gut." Gemeinsam ging die Gruppe in Richtung Aula. An ein paar grauen Tischen saßen bereits einige Schüler aus derselben Jahrgangsstufe. Ein paar sahen die Mädchen erstaunt an, beachteten sie aber nicht weiter. Annita vorne weg setzte sich nahe den anderen auf einen Stuhl und zog eine Papiertüte hervor.
Ein bisschen unsicher ließ Linda sich neben ihr nieder und beobachtete die anderen. Keine von ihnen richtete das Wort an sie, nur manchmal fragte entweder Annita oder die Falsche - von der sie immer noch nicht den Namen wusste - sie nach ihrer Meinung. Dann gab sie eine knappe, ausweichende Antwort.
Als es dann zur Mittagspause läutete, erhob Linda sich kurzerhand und sagte etwas wie: "Ich muss noch was in der Biblo besorgen." und wollte schon abhauen, als Annita ihr folgte.
"Warum bist du so still?", fragte diese und ging zusammen mit Linda die Treppe hinauf.
"Was meinst du?"
"Du hast kaum was gesagt. Trau dich mal ein bisschen mehr. Die anderen reißen dir nicht den Kopf ab, wenn du mal was sagst."
Linda antwortete nicht.
Unwillkürlich hatte sie an das Mädchen denken müssen, das anscheinend einen Groll gegen Annita hegte.
"Wie heißt eigentlich das Mädchen, das mir vorhin die Hand gegeben hat?", platzte es urplötzlich aus ihr heraus.
"Michelle? Was ist mit ihr?" Annita sah sie neugierig an. Das konnte Linda spüren.
"Ach, gar nichts." Sie ging den Gang entlang und hörte nicht zu, während Annita ihr irgendetwas über Michelle und ihre anderen Freundinnen erzählte. Immer wieder rief Linda sich die boshaften Gedanken und Gefühle in den Sinn. Und sie mochte diese Michelle immer weniger, je länger sie darüber nachdachte.
"Eh, sorry, aber ich würd ja echt noch gern mit dir rumhängen, aber ich muss gehen", meinte Annita und blieb mit Linda vor der gläsernen Tür zur Biblo stehen. Diese sah sie nicht an, sondern nickte nur stumm.
"Okay."
Dann verschwand sie nach drinnen. Es kümmerte sie nicht, was Annita für eine Entschuldigung hatte, dass sie plötzlich woanders hin musste. Insgehehim konnte Linda es ihr nicht verübeln. Es würde ihrem Image sicher schaden, wenn man sie zusammen sah. Das war immer so mit den beliebten Schülern. Das hatte sie auch in einigen der Bücher gelesen.
Sie seufzte und kramte ein Buch aus einem Regal und fläzte sich in einen der roten Schwingsessel, die an der halbrunden Glaswand aufgereiht waren.
Die Mittagspause dauerte eine halbe Ewigkeit und Linda seufzte, als sie sich auf den Weg zu Geschichte machte. Sie setzte sich an ihren Stammplatz und blätterte gelangweilt in dem Geschichtsbuch. Plötzlich knallte die Tür hinter ihr zu und sie drehte sich erstaunt um. Ihr Englischlehrer stand da und lächelte auf die Schülerschar herab. Dann fiel sein Blick auf Linda, die sich rasch wieder nach vorn drehte. Sie hörte seine Schritte und starrte auf ihren Tisch, während er seine Tasche vorne auf dem Pult abstellte.
Und dann hielt er wieder seine kleine Rede wie in Englisch. Linda wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sicher war es nur ein Zufall, dass sie ihn in Englisch und Geschichte hatte. Was sollte es denn sonst sein?
Sie seufzte und stützte den Kopf auf der Hand ab.
In dieser Stunde ließ er sie wenigstens in Ruhe.
Und auch in der nächsten - Mathe, urgh - verlief alles ruhig. Und langweilig. Das Seminar, das danach folgte, laugte sie vollkommen aus und als sie den kleinen stickigen Raum verließ, drohten ihr beinahe die Augen zuzufallen.
"Scheiß G8", maulte sie und schulterte ihre Tasche. Sie war es noch nicht gewohnt, so lange Schule zu haben. Und dann auch noch Englisch am Nachmittag. Sie seufzte laut und ging gerade die Treppe hinunter, als sie hinter sich Schuhgeklacker auf dem Marmorboden hörte.
"Hey, Linda!"
Auf dem Gang rannte Annita - wie konnte man in solchen Schuhen bloß rennen, ohne umzukippen?? - ihr entgegen und wedelte dabei mit einem Arm.
"Oh. Hi, Annita", entgegnete Linda und wartete, bis das Mädchen völlig außer Atem neben ihr auf der Treppe zum Stehen kam.
"Ist ja super, dass wir zusammen im Seminar sind", sprudelte es aus dem Mädchen hervor.
Erstaunt hob Linda den Blick. "Sind wir? Oh, das hab ich gar nicht mitbekommen. Ich war so müde und da hab ich das wahrscheinlich ... irgendwie ... übersehen."
Beschämt senkte sie den Blick und ging die Treppe hinunter.
"Ist doch kein Problem. Du siehst wirklich nicht gerade rosig aus. Weißt du, ein wenig Rouge würdest du viel lebendiger aussehen. Und vielleicht noch ..."
" ... Maskara und Wimperntusche? Sorry, aber das kann ich mir nicht leisten."
Linda wäre beinahe der Mund aufgeklappt. Wieso hab ich das grad gesagt? Im Stillen verfluchte sie sich dafür.
"Ja. Genau", meinte Annita lahm und musterte Linda von der Seite. "Kannst du etwa GEdanken lesen? Das hab ich mir heute Vormittag nämlich gedacht."
Lindas Kopf zuckte hoch und sie starrte dem Mädchen direkt in die Augen. Sie zog die Brauen zusammen und presste die Kiefer aufeinander. Lass nichts deine GEdanken stören, Linda. Es sind deine GEdanken. Sie gehören dir. Und niemandem sonst ...
Und es klappte!
Überrascht blinzelte Linda und erkannte, dass Annita eine SOnnebrille aufgesetzt hatte. Die Sonne blendete sie beide.
"Ach, ich mag Herbst eigentlich gar nicht. Ich finde Sommer viel schöner, du nicht auch?"
"Eh ... ja. Schon."
"Super! Und wieder haben wir etwas gemeinsam!" Sie lachte und zog Linda mit sich, doch die riss sich plötzlich grob aus dem Griff des anderen Mädchens.
"Was willst du eigentlich von mir?", platzte es aus ihr heraus.
"Was meinst du?" Annita hörte sich ehrlich verwirrt an.
"Das alles hier!" Linda machte eine ausschweifende Handbewegung. "Seit wann interessiert sich irgendjemand für mich? Ich war doch immer nur der Fußabtreter für euch. Lasst mich einfach in Ruhe!"
"Gibt es ein Problem?"
Beide wirbelten herum und starrten einem jungen Mann mit strubbeligem kurzen Haar ins Gesicht. Ihr Englischlehrer.
"Ach, Herr Schuster." Annita ging auf ihn zu und lächelte ihn an. "Wir haben nur ein Gespräch unter Mädchen geführt, wissen Sie."
"Ach, wenn das so ist." Er wandte den Blick Linda zu, doch die starrte nur zu Boden. "Linda? Geht's dir gut? Du siehst so..."
"Nein, verdammt, es geht mir überhaupt nicht gut!", schrie sie plötzlich und blitzte ihn wütend an. Es war ihr egal, ob er sie für verrückt hielt, für einen Freak oder was auch immer er wollte.
Sie spürte Überraschung in sich aufkeimen.
"Warum ist sie plötzlich so wütend? Haben die beiden sich doch irgendwie gestritten? Sie sieht nicht gesund aus. Ist sie krank?"
"Ja!", stieß Linda aus und ballte die Hände zu Fäusten. Sie schaute ihm direkt in die Augen. "Ich bin krank! Und jetzt lasst mich bitte einfach nur noch in Ruhe!"
Damit wirbelte sie auf der Stelle herum und rannte mit Tränen in den Augen die Straße hinunter. Einige Schüler starrte ihr hinterher und tuschelten dann über sie.
Aber Linda kümmerte es nicht mehr. Sie wollte nur noch heim. In ihr warmes, weiches Bett und nichts mehr von der Welt außerhalb ihres Zimmers wissen.
Als sie bei sich zuhause angekommen war, war sie natürlich völlig außer Atem. Sie blieb einen Moment vor der Haustüre stehen und presste sich die Hand an die Seite, wo es bei jedem Atemzug unangenehm stach.
"Shit", murmelte sie und zog ihren Hausschlüssel aus der Hosentasche. Sie schloss auf und ging hinein. Drinnen brannte Licht und der Geruch nach Pfannkuchen füllte die Wohnung.
"Linda? Bist du das?", ertönte die Stimme ihrer Mutter und Linda zuckte zusammen.
"Ja", war ihre Antwort. Verdammt. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Mutter heute früher aus der Arbeit zurückkam. Sie seufzte und ließ ihre Tasche mitsamt Jacke und Schuhe neben der Eingangstür zurück. Wo sie schon mal hier war, konnte sie gleich was essen. Sie hatte den ganzen Tag so gut wie nichts zu sich genommen und bei dem Geruch der Pfannkuchen rumorte ihr Magen.
"Wie war die Schule?", fragte ihre Mutter, Marie, obwohl sie sich nicht wirklich interessiert anhörte.
Linda zuckte mit den Schultern und ließ Wasser in ein Glas laufen. "Ganz ok."
Marie nickte stumm und machte weiter die Pfannkuchen. Linda nahm sich einen, schmierte Marmelade darauf und setzte sich dann an den kleinen weißen Küchentisch neben der Tür.
"Wir haben eine Einladungskarte von deinem Onkel Richard bekommen. Er feiert seinen fünfzigsten Geburtstag."
"Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür habe", wich Linda ihr aus und bis von dem Pfannkuchen ab. "Ich hab so viel auf und bald stehen auch die ersten Klausuren an."
Sie spürte den finsteren Blick ihrer Mutter, sah aber nicht auf. Sie hatte genug von diesen feindseligen Blicken und Gefühlen der Frau, die sie ihre Mutter nannte. Ihr Vater, Tim, hatte ihr es nie gesagt, aber Linda glaubte nicht, dass Marie wirklich ihre Mutter war. Es war keine Ähnlichkeit zwischen ihnen da und Linda konnte sich nicht daran erinnern, jemals so etwas wie mütterliche Liebe gespürt zu haben.
Also war sie zu dem Schluss gekommen, dass Marie nicht ihre leibliche Mutter war und sie nur einen Vater hatte. Tim kümmerte sich gut um seine Tochter und hatte Verständnis für ihre ... Fähigkeiten.
Linda seufzte und nahm einen kleinen Schluck Wasser.
"Na gut, dann bleibst du eben da. Dann können dein Vater und ich uns auch ein Hotelzimmer leisten."
Das hört sich an, als würde ich so viel kosten, dass sie sich nicht mal mehr ein Hotelzimmer leisten könnten, dachte Linda verdrießlich und nahm sich einen zweiten Pfannkuchen.
Nach ein paar Minuten des Schweigens verkündete Marie plötzlich etwas, das Lindas Blut gefrieren ließ.
"Ich habe heute mit deinem Augenarzt gesprochen."
Linda hielt im Kauen inne und starrte die zierliche Frau an, deren blondes Haar in einem losen Zopf zusammengebunden war.
"Wie bitte?" Ihre Stimme war ganz ruhig und doch war die Drohung darin genau herauszuhören. Marie zuckte leicht zusammen, sah ihre Tochter aber nicht an.
"Dr. Serkow meinte, du könntest morgen nach der Schule bei ihr vorbeischauen. Um diese Zeit hat sie nicht mehr so viel zu tun."
"Das werde ich nicht", entgegnete Linda selenruhig und stellte ihren Teller und das Glas neben das Spülbecken, in dem Marie gerade herumhantierte. Die Frau sah auf und begegnete Lindas Blick. Aber nicht lange genug, dass Linda ihre Gedanken erfassen konnte.
"Ich habe den Termin bereits gemacht und du wirst dort hingehen."
Ihre Antwort klang entgültig.
Aber sie kann mir nichts befeheln, dachte Linda, sagte nichts darauf und schnappte sich einen Apfel, den sie mit aufs Zimmer nahm. Sie schloss leise ihre Tür hinter sich und schloss dann die Augen.
"Ganz ruhig, Linda. Tief durchatmen."
Das tat sie dann auch und ihr Herzschlag verlangsamte sich. Dann legte sie sich aufs Bett und drehte den Kopf nach rechts, sodass sie nach draußen in den grauen Himmel schauen konnte.
Wie gern würde sie dieses Haus verlassen. Aber sie wüsste nicht, wohin sie gehen sollte. Außerdem ging sie ja noch zur Schule.Und ihren Vater gab es ja auch noch. Sie konnte ihn nicht einfach so verlassen.
Sie seufzte laut und stand dann auf. Ihr Zimmer war nicht groß. Gerade so, dass ein Bett, ihr Kleiderschrank und ein kleiner Schreibtisch hineinpasste. Eine Kommode stand noch in der Ecke, das war's dann auch schon.
Als sie mit ihren Hausaufgaben fertig war, war es bereits dunkel draußen. Die Laterne strahlte in ihr Zimmer und sie fuhr sich über die Augen. Sie schmerzten höllisch.
Kam das daher, weil sie heute von so vielen Menschen die Gedanken gehört hatte? Oder nur, weil sie so müde war vom ganzen Schulstress?
Insgeheim versteifte sie sich auf die zweite Antwort.
Plötzlich horchte sie auf. Unten fiel die Haustür ins Schloss und eine tiefe männliche Stimme ertönte. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie packte ihre Schulsachen zusammen und ging dann nach unten.
Ihr Vater saß bereits in der Küche und verspeiste einen Pfannkuchen nach dem andern. Aufgrund seines großen Appetits war sein Bauchumfang auch entsprechend. Er sah aus wie ein großer Teddybär.
Linda lächelte, als zur Küche hinüberging. Doch dann hörte sie die Stimmen ihrer Eltern und blieb stehen.
"...weiß ja, dass du es nur gut meinst, aber du kannst das nicht einfach so entscheiden", sagte ihr Vater gerade und hörte sich alles andere als zufrieden an.
"Du weißt gar nicht, wie das ist!", rief Marie und Linda zuckte zusammen. "Jedes Mal, wenn ich mich mit Freundinnen aus der Nachbarschaft treffe, tratschen sie über sie. Dass sie einem nie in die Augen schaut. Dass sie unhöflich ist und so weiter."
Natürlich war mit "sie" Linda gemeint. Von wem sonst könnte wohl die Rede sein außer ihr? Angestaute Wut keimte in ihr hoch und sie ballte die Hände zu Fäusten.
"Ich weiß genau, was du meinst", meinte ihr Vater traurig, was Linda einen heftigen Stich versetzte. "Aber trotzdem gibt dir das nicht das Recht, zu tun, was du willst. Du musst auch auf Linda Rücksicht nehmen."
"Und wer nimmt auf mich Rücksicht? Kein Mensch! Ich bin hier das Opfer und du kapierst das einfach nicht, du ..."
Linda schlug die Tür auf und starrte Marie an. Wut, die nicht nur von ihr stammte, ergriff von ihr Besitz.
"Was will die denn hier schon wieder? Wie ich sie hasse. Tim hätte sie schon als Baby in ein Waisenhaus geben sollen. Dann hätten wir die Probleme jetzt nicht."
"Marie", sagte Linda und wandte sich dann an ihren Vater. "Tim."
Ihr Vater lachte nervös auf und stand auf, um seiner Tochter eine Hand auf die Schulter zu legen.
"Guten Abend, Linda. Wie war die Schule?"
"Gut."
"Schön. Marie hat dir sicher schon gesagt, dass wir zu ..."
"Ja. Hat sie."
"Ah." Er wusste nicht, was er sagen sollte, das war offensichtlich.
"Ich gehe hoch. Ich muss noch Hausaufgaben machen", log sie lahm.
"Ja, tu das, mein Kind", sagte ihr Vater und küsste sie auf die Stirn. Dann schloss sie leise die Tür hinter sich und rannte die Treppe hinauf. Sie wollte nicht noch mehr hören. Das, was sie wusste, reichte vollkommen.
Tränen rannen ihre Wangen hinab und sie schloss sich in ihrem Zimmer ein.
Bis tief in die Nacht hinein weinte sie und antwortete nicht, als ihr Vater versuchte, einzutreten und nach ihr zu rufen.
Sie wollte nur noch allein sein.
Am nächsten Tag hatte sie rote Augen und dunkle Schatten darunter. Ihr Haar stand in alle Richtungen weg und sie sah nicht gesund aus. Sie fühlte sich auch nicht gut. Am liebsten würde sie da bleiben. Aber sie wollte es nicht, genauso wenig wollte sie aber in die Schule gehen.
Seufzend zog sie sich aus und stieg unter die Dusche, um sich aufzuwärmen. Nachdem sie sich angezogen hatte, zog sie sich Schuhe und Jake an, schulterte ihre Tasche, schlich sich nach unten und nahm sich eine Mandarine. Dann huschte sie nach draußen und machte sich auf den Weg zur Schule.
Es war kalt und der Wind fuhr durch ihre noch feuchten Haare. Er riss bunte Blätter mit sich und wirbelte sie durch die Lüfte, um sie dann auf die Straße fallen zu lassen, wo sie dann wieder von vorbeifahrenden Autos aufgewirbelt wurden.
Linda hatte ihr Gesicht im Schal vergraben und starrte vor sich hin. Sollte sie zu dem Augenarzttermin hingehen? Aber sie war schon öfters mit ihrem Vater dort gewesen und es hatte nichts gebracht. Ihre Augen schienen vollkommen in Ordnung zu sein. Nicht einmal eine Brille brauchte sie. Sie seufzte erneut und schlang die Arme um ihren Körper.
Nein, sie würde nicht hingehen. Nur weil Marie es sagte, musste sie es noch lange nicht tun.
Als sie dann an der Schule angekommen war, waren es noch fünf Minuten bis zum Unterrichtsbeginn. In der ersten Stunde hatten sie Geologie. Also machte Linda sich auf den Weg zum Klassenzimmer und setzte sich an die Wand. Es war noch keiner da, doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine Schar Mädchen kam herein.
Unter ihnen war auch Annita, die Linda zuerst gar nicht bemerkte, dann lachte sie auf und ließ ihre Tasche neben Linda fallen.
"Guten Morgen!", trällerte sie und drehte sich zu ihr herum. Diese sah nur müde auf und nickte.
"Morgen."
"Meine Güte, Linda! Wie siehst du denn aus!"
"Was? Wieso?"
Sie hob den Kopf und begegnete Annitas Blick.
"Was ist mit ihr passiert? Sieht ganz so aus, als hätte sie die ganze Nacht durchgeweint. Hat sie Probleme daheim? Oder Liebeskummer?"
Linda lächelte schwach und sah weg.
"Nein, mir geht's gut."
"Das sieht aber nicht so aus", protestierte Annita lautstark und wollte aufstehen, als ihr Lehrer hereinkam.
"Guten Morgen", begrüßte er sie alle und Annita musste sich wohl oder übel wieder setzen.
"Willst du nicht zu deinen Freundinnen hinter?", fragte Linda sie leise und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter, wo die Mädchen aus Annitas Clique saßen und miteinander tuschelten. Vermutlich wieder über den jungen Geo-Lehrer.
Annita sah sie an und hob eine Braue. "Nein. Ich bleibe hier sitzen und mir ist egal, was du sagst. Es kann doch nicht sein, dass du immer allein sitzt! Außerdem..."
"Entschuldige. Ich unterbreche euer Gespräch nur ungern, aber ich würde gern mit dem Unterricht anfagen", unterbrach Herr Feber sie und tat dann, was er gesagt hatte.
Linda atmete tief durch und lehnte sich im Stuhl zurück, während sie vorgab, dem Unterricht zu folgen. Sie wusste wirklich nicht, was sie mit diesem Mädchen anfangen sollte. Sie schien sie regelrecht zu verfolgen. Wieso ließ sie Linda nicht einfach in Ruhe? Dann wäre das für sie beide viel einfacher. Sie seufzte und musste ein Husten unterdrücken.
Es dauerte eine schiere Ewigkeit, bis die erste Stunde vorüber war, und Linda machte sich auf in die Bibliothek, denn sie hatte eine Freistunde.
"Hey, kann ich mitkommen? Ich war da noch nie und würd's auch mal gern sehen", meine Annita grinsend und schloss sich Linda an, ohne auf ihre Antwort zu warten.
"Klar", murmelte diese und gemeinsam gingen sie in die Biblo, wo noch nicht viele Schüler waren. Sie setzten sich an eine Tischgruppe und Annita ließ sich Linda gegenüber nieder.
Linda kramte irgendein Buch hervor und blätterte lustlos darin herum.
"Also, erzähl mal", platzte Annita hervor und lehnte sich vor. "Du hast Liebskummer, stimmt's?"
Linda verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht umhin und ein wenig lächeln.
"Nein."
"Ok, dann hast du vielleicht Stress daheim?"
Linda sah auf und starrte ihr direkt in die Augen. Reine Neugierde und ein wenig Besorgnis erfüllte sie.
"Ja."
Sie wusste nicht, weshalb sie es zugegeben hatte. Vielleicht wollte sie nur jemanden haben, mit dem sie darüber sprechen konnte? Sie schüttelte leicht den Kopf und sah weg.
"Scheiße, wirklich? Hey, du kannst mir echt alles erzählen. Vielleicht kann ich dir sogar..."
"Wieso tust du das?", unterbrach Linda sie, ohn sie anzusehen. "Wieso redest du mit mir? Du hast doch Freunde, mit denen du abhängen kannst."
"Du bist immer allein. Ich hab dich noch nie mit jemandem rumhängen gesehen."
"Du hast also Mitleid mit mir? Das kannst du dir sparen."
"Nein, ich will nur befreundet mit dir sein. Ist das so schlimm?"
Nun sah Linda doch auf. In Annitas Augen lag reine Wahrheit. Und in ihren Gedanken konnte sie auch keine Lüge hören.
"Ich weiß nicht. Ich bin anders und ich glaube nicht, dass dir meine Geheimnisse gefallen, die ich habe. Sie würden dich nur abschrecken und dann bin ich wieder allein. Was bringt das also?"
"Du weißt gar nicht, wie viel es wert ist, eine gute Freundschaft zu haben."
Linda hob eine Augenbraue. "Das sagt gerade die richtige. Du hast nicht zufällig bemerkt, dass diese Michelle dich von vorn bis hinten verarscht und dich eigentlich abgrundtief hasst?"
Überraschung legte sich auf Annitas Gesicht. "Woher weißt du das?"
Linda zuckte mit den Schultern. "Ich hab doch gesagt, ich habe Geheimnisse."
"Egal. Ich mag Michelle auch nicht besonders, aber das ist jetzt nicht wichtig."
"Du wirst es bereuen, das kann ich dir versprechen."
Annita grinste breit. "Überlass das mir."
Linda schüttelte lächelnd den Kopf und seufzte. "Du bist wirklich ein merkwürdiges Mädchen, Annita."
"Danke", lachte diese.
Irgendwie fühlte Linda sich gut. Na ja, besser als zuvor, aber doch irgendwie anders. Sie schielte zu Annita hinüber, die gerade mit einem Jungen sprach, den sie anscheinend kannte. Sie war hübsch und selbstbewusst. Obwohl sie es Linda erklärt hatte, konnte diese sich immer noch nicht wirklich zusammenreimen, weshalb sie sich mit einem Mädchen wie Linda abgeben wollte.
Aber es würde sicher interessant werden.