ID p6oort
Ich bin heute Nachmittag allein zuhause, das heißt ich muss ans Telefon gehen. Ich hasse es, mit den Freundinnen meiner Mutter zu reden, die mich alle wie ein Kleinkind behandeln oder wie das wertvollste Stück in einer Kunstsammlung. Das hat Marcia gesagt, aber ich habe es auch angefangen zu bemerken. Sie hatte wie immer Recht. Aber heute ist es keine von ihnen, die anruft. Es ist Papa. Papa, der die Familie gespalten und zerstört hat. Papa, der uns alle ins Chaos gestürzt hat und wochenlang nicht schlafen ließ. Ein Stich durchfährt mich, fast wie Eifersucht, nur seltsam süß. Irgendwoher kommt plötzlich die Erinnerung, wie er mich das letzte Mal umarmt hat. Ohne ein Wort zu sagen, ohne zu wissen, was er sagt, falls nicht auch ihm die Worte fehlen, lege ich auf. Dann schreibe ich einen Zettel in der Küche, damit Mama ihn zurückrufen kann, wenn es um etwas Wichtiges geht. Ich gehe in mein Zimmer, mir wird schwarz vor Augen. Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Ich stehe wieder auf und mache mein Radio an. Ich nehme mir einen Zettel und einen Bleistift und setze mich zurück, dann fange ich nachzudenken. Über alles, nur Papa lasse ich aus. Ich schaue dabei nicht auf das Blatt, meine Hand bewegt sich blind. Das ist ein Trick, den mir eine der Psychologinnen gezeigt hat, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe. Es hilft wirklich, die Gedanken wieder in Ordnung zu bringen, soweit das überhaupt möglich ist. Ich starre an die Wand, meine Gedanken bleiben aber nicht bei meiner Familie. Sie alle sind in unendliche Ferne gerückt, zusammen mit Marcia, Daniel und all den anderen. Zum ersten Mal seit langem höre ich auf die Musik. Kreischende Gitarren, wummernde Bässe, ekstatische Stimmen. Texte, die auch ich verstehe. Das ist meine Musik. Eine Musik ohne wahre Gefühle, die trotzdem mitreißt. Den Namen der Band werde ich nie wieder vergessen: Neonscream.
ID p6oort, 170 months ago
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