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Das Wasser prallt von meinem Bauch ab, jeder Tropfen zersplittert in zehn oder zwölf kleinere, die wie Scherben glitzern. Das Neonlicht brennt stumpfe Narben hinter meinen geschlossenen Lidern. Irgendwann wird das so unangenehm, dass ich das Wasser abstelle, den Kopf senke und die Augen öffne, um die Flecken zu vertreiben. Seltsamerweise habe ich Angst davor, dass sie – wenn ich das auch nur einmal nicht tue – nie wieder verschwinden.
Was ich sehe, als mein Blick endlich wieder scharf ist, erscheint mir nur fremd. Dieser Körper, der flache Bauch, die sanft gewölbten Brüste, die eleganten Beine – das alles kann nicht zu mir gehören. Es kann kein Teil von mir sein, denn ich bin nicht perfekt – nicht einmal annähernd. So ein Körper würde eher zu Marcia passen, Marcia mit ihren Heldengeschichten, ihrer Romantik, ihrem Glück. Wie soll ich da mithalten?
Ich lege meine Fäuste vor meine Augen und drücke zu. Ich lasse sie dabei offen. Das seltsame Gefühl, wie meine Fäuste und Wimpern sich gegenseitig abstoßen wollen, aber gleichzeitig auch wie zwei Kletten aneinanderhängen, liebe ich. Es erinnert mich an die Art, wie Daniel mir manchmal einen dieser seltsamen Blicke zuwirft, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme. Ich weiß nicht, was ich von diesen Blicken halten soll. Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin! Ein Mensch, so weit bin ich schon gekommen. Ein Mädchen, vielleicht auch eine Frau. Das kommt darauf an, wann man eine Frau wird. Wenn es mit der Liebe zusammenhängt, bin ich noch ein kleines, unerfahrenes Mädchen. Wenn es aber nach dem Denken, der Reife, der Erfahrung geht, bin ich schon vor Jahren zur Frau geworden.
Ich glaube, ich sollte mich mit dem Duschen beeilen, damit Mama sich nicht wieder beschwert. Ich drehe also wieder am Hahn.
Das Wasser, das jetzt an meinem Blick vorbei auf den Boden springt, hat eine seltsame Regelmäßigkeit. Ein Tropfen trifft immer genau dort auf, wo schon der vorherige gelandet ist. Ich weiß nicht, warum, aber das Bedürfnis, dieses gleichmäßige Gefüge zu durchbrechen, wird übermächtig. Mit aller Kraft schlage ich gegen den Duschkopf. Für einige Sekunden ist der Fluss unterbrochen. Besser als nichts.

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Mein Name ist Emilia, Emilia Grey. Das sagen zumindest alle zu mir. Grey heiße ich, weil meine Eltern, als sie geheiratet haben, Papas Namen behielten. Er war schon seit fünf Generationen in der Familie, und er ist sehr stolz darauf. Jetzt sind meine Eltern seit genau siebzehn Wochen offiziell geschieden. Papa ist seit genau siebzehn Wochen verschwunden, er hat alles, was irgendwie mit ihm zu tun hatte, mitgenommen. Das einzige, was mir noch geblieben ist, ist der Name.
Emilia wurde ich getauft, weil meine Großmutter mütterlicherseits so hieß. Sie ist auf den Tag genau fünfzig Jahre, bevor ich zur Welt gekommen bin, von einem Zug überfahren worden. Alle glauben, dass es Selbstmord war, außer Mama. Sie will einfach nicht wahr haben, dass sie auch noch daran schuld ist. Davon später mehr. Hier geht es um mich.
Ich bin siebzehn Menschenjahre alt, das sind so viel wie 34 Katzen- und xxx Elefantenjahre. Ich habe den Durchschnitt ausgerechnet, um herauszufinden, wie alt ich nun in echten Jahren bin, aber die Zahl hatte endlos viele Kommastellen. Das kann eigentlich nicht sein, denn ich habe es an meinem Geburtstag versucht. Vielleicht muss dafür, für das wahre, innere Alter, auch erst jemand eine neue Formel finden. Und wie alt fühle ich mich? Manchmal so, als wäre ich noch ganz klein, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Eigentlich hasse ich das Gefühl, also versuche ich es zu unterdrücken, obwohl das nicht wirklich funktioniert. Es gibt auch Zeiten, in denen fühle ich mich alt und schwach. Ich habe das Gefühl, die Last eines ganzen Lebens auf meinen Schultern zu tragen; dabei habe ich noch nicht einmal angefangen zu leben. Das hat mir ein Philosoph klar gemacht, ich habe seinen Namen vergessen. Er hat gesagt, wer nie die einzig wahre Liebe gespürt hat, der lebt nicht. Ich war noch nie verliebt, wisst ihr? Bei Daniel spüre ich ein seltsames Ziehen im Bauch, und mein Blick bleibt manchmal an ihm kleben, ich muss mich zwingen, ihn abzuwenden. Außerdem muss ich immer lächeln, wenn ich an ihn denke, und sein Name erinnert mich an den Geschmack von Honig… Marcia sagt, dass ich in ihn verliebt bin. Aber Marcia sagt auch vieles anderes. Davon aber später mehr. Hier geht es um mich.

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Madame Rogeille starrt mich an. „Was soll das heißen, du hast es vergessen?“ Ich lächle sie vorsichtig an. Eigentlich dachte ich, dass sie mittlerweile genug Deutsch spricht, um mich zu verstehen. „Das heißt, Madame, dass mein Heft leider noch auf meinem Schreibtisch zuhause liegt. Ich habe es heute Morgen nicht wieder eingesteckt, nachdem ich mit Marcia gestern Abend noch einmal die Grammatikübung durchgegangen bin.“ Ich beobachte, wie die Lehrerin rot anläuft. „Du weißt ganz genau, dass es nicht das ist, was ich habe gemeint!“ Marcia hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Madame Rogeille immer mehr Fehler macht, wenn sie wütend ist. Sie liebt es, dann die Zeitformen zu vertauschen. Ich achte nicht darauf. Es gibt Schüler, die schlechter deutsch sprechen als die Französin. Ich werfe ihr also einen unsicheren Blick zu. Was auch immer sie meint, ich verstehe sie nicht. Aber ich habe schon oft festgestellt, dass mir das mit anderen Menschen so geht, selbst mit Marcia. Und eigentlich ist es auch kein Wunder. Ich verstehe mich schließlich nicht einmal selbst. „Wiewäresmiteinentschuldigung?“ Jetzt fällt sogar mir auf, wie verändert meine Französischlehrerin plötzlich spricht. Sie zieht die Worte zusammen. Ich sollte wirklich schnell etwas unternehmen, um sie zu beruhigen… Zumindest würde Marcia das jetzt sagen. Ich selbst würde einfach stehen bleiben und schweigen, so wie ich es immer tue. „Tut mir Leid“, sage ich und schaue zu Boden. Überallhin, ja, nur nicht auf ihren hochroten Kopf. Marcia sagt, ich starre die Leute an, und das ist unangenehm für sie. Deshalb habe ich mir angewöhnt, einen Punkt knapp über der Stirn des anderen anzuvisieren. Es hilft. Behauptet zumindest Marcia. Ich höre Madame Rogeille seufzen und blicke auf, hin zu der überdimensionalen Schleife, die an ihrem Haarreifen festgemacht ist. „Dann setz dich neben Marcia. Nur für heute aber, ist das klar?“ Ich nicke stumm und bleibe stehen. Sie starrt mich weiterhin wortlos an. „Was ist? Du bist entlassen.“ Ich dachte eigentlich immer, dass sie mich mag, aber jetzt ist sie bösartig. Oder ist das nur Sarkasmus? Ich kann beides nicht auseinanderhalten. Auf jeden Fall zucke ich zusammen und verlasse hastig das Zimmer. Aus den Augenwinkeln sehe ich Madame Rogeille die Stirn runzeln und den Kopf schütteln. Wir Menschen sind seltsam.

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Ich hasse es, gefragt zu werden, was meine Hobbies sind. Es gibt nichts, was ich wirklich gerne mache. Wenn man mich aber fragt, was mir nicht gefällt, was ich verabscheue oder sogar hasse, weiß ich auch darauf keine Antwort. Muss man denn lieben und hassen? Vielleicht liebe ich Menschen, habe manche Leute wirklich gern. Vielleicht glaube ich das aber auch nur, weil diese Menschen immer bei mir sind. Sie sind diejenigen, die mich von Zeit zu Zeit in den Arm nehmen, die mir sagen, dass sie mich gern haben. Ich weiß nur nicht sicher, was das heißt.
Wenn ich die nicht sagen kann, was ich gerne tue, bin ich dem Verhör trotzdem nicht entkommen. Sie fragen dann weiter, wollen wissen, wie ich meine Nachmittage verbringe. Erst schweige ich lange, und dann antworte ich. Meistens liege ich auf meinem Bett, in meinem Zimmer. Das Radio läuft, ich höre aber nicht wirklich zu; ich könnte keine einzige Melodie nachsingen, obwohl Marcia sagt, dass ich eine schöne Stimme hätte, würde ich sie nur ein wenig trainieren. Aber wozu? Musik ist mir egal. Die nächste Frage ist meistens, woran ich denn denke, wenn ich dort liege. Auch darauf kann ich keine Antwort geben, zumindest keine, die die anderen zufriedenstellt. Ich sage dann, dass ich meine Gedanken einfach treiben lasse, mich erinnere und versuche in die Zukunft zu schauen, mich aber an keines der Dinge erinnern kann, die ich dort gesehen habe. Wenn ich dann noch sage, dass ich eigentlich schon über alles und nichts nachgedacht habe, ohne jemals zu einem Schluss zu kommen, und zurückfrage, ob das denn überhaupt möglich ist, sehen sie mich alle seltsam an. Ich kenne diesen Blick nur zu gut, ein wenig von der Seite, als wollten sie mir plötzlich nicht mehr in die Augen schauen, als wäre es eigentlich verboten, überhaupt in meine Richtung zu schauen. Marcia sagt, sie bemitleiden mich, vor allem, wenn ich auf die Frage hin, ob mir das denn gefällt, einfach nur mit den Schultern zucke. Auch Marcia versteht nicht, warum ich das tue. Ich habe bisher nie das Gefühl gehabt, verstanden zu werden… Außer vielleicht an dem einen Tag. Es war eine Buchmesse, ich weiß nicht mehr wo, in einer Zeit, in der ich es liebte, mir den ersten und den letzten Satz eines Buches aufzuschreiben und meinen eigenen Mittelteil zu erfinden. Die hunderte von Zetteln, die meine Fantasie gefüllt hat, sind sofort nach ihrer Entstehung im Papierkorb gelandet. Ich bin nicht geschaffen, um Schriftsteller zu sein.
Wir waren mit unserer Klasse da, und deshalb mussten wir auch zu einer Lesung gehen. Es war ein Buch, das ich erst vor kurzem in der Hand gehalten hatte, um mir die beiden Sätze herauszuschreiben – und dann sah ich die Autorin. Sie war eine dunkelhäutige Frau, groß und dick, in einem seltsamen, bunten Sackkleid. Sie hatte eine dunkle, samtige Stimme, eine Stimme, die kurz darauf einem gefesselten Publikum von fremden Welten erzählte; von Drachen und Magie, von Ehre und Familienfehden, und zwischendrin von einem Mädchen, einem Mädchen, das seinen Heimweg suchte. Sie hatte Angst in der realen Welt, Angst vor der Dunkelheit, vor engen Gassen oder dem kläffenden Nachbarshund, also schuf sie sich eine eigene Welt, um zu lernen, mutig zu sein. Ich habe mir das Buch am selben Tag gekauft und meine Mutter angefleht, es mir wieder und wieder vorzulesen. Aber mit jedem Mal, da ich die Geschichte hörte, fand ich weniger von mir selbst darin. Ich hatte Albträume, in denen riesige, dunkelhäutige Frauen mich auslachten, um dann mit einer noch riesigeren Schere einen glänzenden Faden durchzuschneiden, den ich für meine Seele hielt. Nachdem ich den Traum zum dritten Mal hatte, beschloss ich, nie wieder einen Roman anzurühren. Auch mit dem Schreiben hörte ich auf. Eigentlich war es nur ein Tag, an dem ich glaubte, eine Seelenverwandte gefunden zu haben. Es war das erste und letzte Mal. Ja, Marcia ist da, aber ich weiß nicht, was ich ihr erzählen soll. Sie lächelt dann immer, auf eine Art und Weise, die mir nur zu deutlich sagt, dass sie mich nicht versteht, auch wenn sie es noch so gern tun würde. Warum Mara sich gerade mit mir abgibt, verstehe ich nicht. Sie könnte eines der beliebtesten und begehrtesten Mädchen der Schule sein, da bin ich mir sicher. Stattdessen gibt sie sich mit mir ab. Und irgendwie macht mein Herz einen Sprung und mir wird warm, wenn ich daran denke.

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Ich stehe neben Mama an dem großen Essenstisch im Wohnzimmer. Wir haben gedeckt für vier Leute. Mama hatte noch einen fünften Teller in der Hand, aber Thomas und Leyla haben nur die Köpfe geschüttelt. Sie hat die beiden angestarrt, mit ihren Augen, die seit genau siebzehn Wochen zu groß für ihr Gesicht wirken, und ihrer blassen Haut. „Und wenn er doch wiederkommt?“ Leyla wendet sich seufzend ab und geht zur Tür hinaus, in Richtung Küche. Die Eieruhr hat angefangen zu klingeln, die Nudeln sind also fertig. Thomas geht auf Mama zu und legt ihr einen Arm um die Schultern. „Das wird er aber nicht, und du weißt es genau so wie wir. Er ist fort, endgültig.“ Mama schluchzt. Thomas wiegt sie in seinen Armen, die noch ein wenig schlaksig sind, und Mama lehnt sich an ihn. Sie ist selbst zu klein um ihren Kopf gegen seine Schulter zu lehnen. Ich stehe daneben und schaue auf den Boden. Was denke ich über Papa? Ich frage mich, warum er nicht schon längst gegangen ist. Ich fühle etwas, ohne ihm einen Namen geben zu können. Weh tut es nicht. Leyla kommt zurück ins Zimmer, mit dem riesigen Topf Spagetti in der Hand. Und schweigend setzen wir uns an den Tisch, zu unserem einhundertundneunzehnten Abendessen mit einem leeren Platz.

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Das Wasser prallt von meinem Bauch ab, jeder Tropfen zersplittert in zehn oder zwölf kleinere, die wie Scherben glitzern. Das Neonlicht brennt stumpfe Narben hinter meinen geschlossenen Lidern. Irgendwann wird das so unangenehm, dass ich das Wasser abstelle, den Kopf senke und die Augen öffne, um die Flecken zu vertreiben. Seltsamerweise habe ich Angst davor, dass sie – wenn ich das auch nur einmal nicht tue – nie wieder verschwinden.
Einmal habe ich darüber nachgedacht, wegzulaufen. Weg von hier, weg aus der Stadt. Ich habe geglaubt, meinen Fehlern entkommen zu können. Aber dann ist mir klar geworden, dass ich, egal wo ich hinkomme, immer mit alldem zu kämpfen haben werde. Marcia sagt, da draußen muss man kämpfen. Nur wie soll ich mich verteidigen, wenn ich nicht einmal merke, dass ich angegriffen werde? Wie kann es sein, dass es Menschen wie mich gibt? Bin ich vielleicht sogar die einzige? Was heißt das für mich?
Ich erinnere mich nur zu gut an ein Gespräch, das ich meine Eltern habe führen hören. Papa meinte, ich würde unsere Familie kaputt machen, und es gäbe sicher Menschen, Einrichtungen, die mir helfen könnten. Mama war strikt dagegen. „Es ist ja nicht so, dass sie keine Gefühle hat, Martin. Sie kann sie nur nicht zum Ausdruck bringen.“ Ja, das ist die Wahrheit. Ich selbst hätte es nicht besser sagen können. Aber ich spreche ohnehin so gut wie nie. Marcia hat oft versucht, das in Worte zu fassen, was an mir verkehrt ist, aber sie hat es nicht geschafft. Ich habe ihr Mamas Variante nie gesagt, sie ist wie ein kleines Geheimnis für mich. Mein Einziges.
Ich balle die Hände zu Fäusten und lasse mich endgültig auf den Boden sinken. Ich liege auf dem Bauch, das Gesicht gegen die Fliesen gepresst. Mein Körper tut weh, denn ich spanne ihn nicht nur an, sondern presse mich mit meiner ganzen Kraft an den kalten Boden. Schmerz, hat einmal ein Philosoph gesagt, ist das deutlichste Zeichen für Leben. Wer Schmerz empfindet, lebt. Ob ich innere Schmerzen habe, weiß ich nicht, und ich will auch Marcia nicht danach fragen. Aber äußerliches Leiden müsste eigentlich reichen, um mir selbst klar zu machen, dass ich lebe. Aber tue ich das wirklich? Oder existiere ich nur? Vielleicht ist der Unterschied zwischen Leben und Existenz ja gar nicht so groß, wie alle meinen. Ich reagiere nicht auf das, was meine Umwelt tut, und auch nur selten auf das, was aus mir herauskommt. Aber trotzdem habe ich einen eigenen Willen und treffe bewusst Entscheidungen. Aber reicht das, um mich einen lebenden Menschen zu nennen? Und was bin ich, wenn es nicht genügt?
Langsam richte ich mich auf. Immer dieselben Karussells in meinem Kopf, dieselben Gedanken, die sich drehen und drehen und drehen. Irgendwann muss das doch aufhören. Und ich habe niemanden, dem ich mich anvertrauen kann. schon wieder ein Satz, den ich von Marcia übernommen habe. Ich weiß, was er bedeuten soll, aber für mich klingt er leer, die Worte haben keine Bedeutung, als würde mir jemand beibringen, einen Satz auf Arabisch zu sagen. Ich könnte zwar die Laute nachahmen, aber sie sagen mir nichts, bringen keine Saite in mir zum Klingen. Marcia liebt diesen Ausdruck. Sie hat lange Geige gespielt, bis sie sich irgendwann den kleinen Finger gebrochen hat. Ganz geheilt ist die Verletzung nie, er ist jetzt ein wenig gekrümmt und steht ab. Es ist nicht viel, man sieht es nicht einmal, aber um Geige zu spielen, ist er zu sehr verändert. Ich habe sie nach der Operation kennen gelernt, sie hat sich neben mich gesetzt, in die erste Reihe, als wäre sie schon immer da gewesen. Ich glaube am Anfang dachte sie, ich sei genauso eine verletzte Seele wie sie. Dann hat sie aber bemerkt, dass es an meiner Natur liegt, und angefangen, mir zu helfen. Sie hat den Dingen für mich Namen gegeben, aber es waren ihre Gefühle, nicht meine. Auch wenn ich am Anfang glaubte, mehr zu verstehen, lernte ich mehr und mehr über sie, aber nichts über mich. Vielleicht ist das ja immer so. Ich habe keine Ahnung vom Leben.
Ich drücke die Fäuste auf meine geöffneten Augen. Meistens kommt dadurch das Karussell zum Stillstand, zumindest für ein paar Sekunden. Aber heute nicht. Was ist nur geschehen? Was habe ich getan, dass es nicht mehr aufhört? Ich schreie, lasse alles heraus, was ich kann, trommle gegen die Wand und falle schließlich schluchzend auf die Knie.

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Leyla starrt Thomas fassungslos an. Er sitzt auf der Couch, während sie gerade vom Sessel aufgesprungen zu sein scheint. „Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.“ Mir schießt ein Wort durch den Kopf. Wut. Eines der wenigen Gefühle, die ich erkenne. Immer, wenn ich mich am liebsten in einer Ecke zusammenrollen und weinen würde, ist jemand wütend. Ich greife nach der Fernbedienung und streife durch die Fernsehkanäle. Ich will gar nicht wissen, was los war. Die beiden Zwillinge sind ständig wütend in letzter Zeit. Seit Papa weg ist.
Ich höre auf, wahllos den Sender zu wechseln, und fange eine Erinnerung auf. Warum ich Mama und Papa sage. Einer der wenigen Momente, in denen ich nicht das Gefühl hatte, hier, überall hier, vollkommen fehl am Platz zu sein.
Es war mein zehnter Geburtstag. Bis dahin hatte ich mich an Bücher und die alten Filme, die Mama so gerne sieht, gehalten. Ich hatte meine Eltern Mutter und Vater genannt. Sie waren alle gekommen, um mich von der Schule abzuholen: Mama, Papa, Leyla und Thomas. Im Flur haben sie für mich gesungen, und viele Schüler und Lehrer haben sich dazugestellt und mitgemacht. Ich wusste nicht, warum, aber ich lächelte. Und dann war da ein kleines Mädchen, sie war gerade erst in der ersten Klasse, und ihre Mutter kam zur Tür herein. Gerade in dem Moment, als ich meiner Mutter um den Hals fallen wollte, rief sie ihr zu: „Mama!“ Ich zögerte kurz, dann flüsterte ich, so wie man es mir beigebracht hatte: „Danke.“ Und nach kurzem Zögern fügte ich noch Mama hinzu. Meine Eltern tauschten einen Blick und begannen ebenfalls zu lächeln. Ich war süchtig nach diesem Lächeln, und so behielt ich die Namen bei. Bis heute, wo sie schon längst Alltag geworden sind und meine Sucht nachgelassen hat. Wie gerne würde ich doch Leyla danach fragen… Aber als ich Marcia davon erzählt habe, wie es zwischen uns war und ist, hat sie gesagt, ich sollte sie lieber in Ruhe lassen. Sie wird schon von allein wieder zu mir kommen. Irgendwann. Und im Moment gibt es nur eine absolut unumstößliche Regel in meinem Leben: Was Marcia sagt, ist meine Wahrheit.
Oben knallt eine Tür, als Leyla sich in ihrem Zimmer einschließt, kurz darauf lassen Chopins schnellste Stücke in unnatürlicher Lautstärke unsere Köpfe schwirren. Thomas‘ Seufzer übertönen sie trotzdem nicht.

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Ich weiß nicht, wie die Schule beschreiben soll. Für mich ist der Gebäudekomplex einfach eine Reihe von Häusern. Ich verbinde eigentlich nichts mit ihnen, außer dass ich Marcia kennengelernt habe. Für sie ist das alles etwas anders: für sie ist die Schule alles. Hier hat sie Freunde und Verehrer. Hier lebt sie, mit ihrer Schminke und ihren Reizen und den Scherzen und Flirts, von denen ich nichts verstehe. Ich habe sie schon mit allen Jungen reden sehen – außer mit Daniel. Er scheint sich von ihr fernzuhalten. Aber er schaut oft in ihre Richtung. Dann sticht es in meiner Brust. Marcia hat gelacht, als ich sie gefragt habe, was das ist, und mir von Eifersucht erzählt. Dann hat sie gesagt, dass das gar nicht nötig sei, Daniel interessiere sich ohnehin nicht für sie. Und dabei hat sie mich angestarrt. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt.
Marcia sagt auch, ich soll mit ihm ausgehen, und ich merke, dass alles leichter wird, wenn ich es mir vorstelle. Trotzdem versuche ich, das zu vermeiden; es wird ohnehin nie passieren. Warum sollte es auch? Daniel lächelt viel zu viel, reißt zu viele Witze, um mit mir, dem Alien, etwas anfangen zu können. Und warum sollte er das wollen? Ich kann mir nichts abgewinnen; nicht meiner Kleidung, nicht dem bisschen, was ich über mich weiß. Wie sollte er das dann können?
Die Schule ist nicht schwer und nicht leicht, genauso wie jede andere Menschenmasse auch. Ich sage nichts, außer ich werde gefragt, halte mich unsichtbar im Hintergrund. Zumindest wenn Marcia nicht andere Pläne mit mir hat. Oft nimmt sie mich mit zu irgendwelchen Gruppen, zwingt mich förmlich, ihr zu folgen. Ich höre dann zu, mache mich unsichtbar. Aber auch das lässt Marcia nicht zu. Ich glaube, sie will, dass ich Freunde finde. Freunde… Eines der Worte, das Marcia mir nicht erklären konnte oder wollte. Ich habe im Lexikon und im Duden nachgeschaut. Ein Freund ist ein Vertrauter, jemand, dem man Geheimnisse teilt und Dinge zusammen tut. Aber da ist noch mehr, irgendwo in mir drin. Und dieses etwas macht mich unsicher, so sehr ich mich auch dagegen wehre. Ist Marcia mein Freund?

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Ich bin heute Nachmittag allein zuhause, das heißt ich muss ans Telefon gehen. Ich hasse es, mit den Freundinnen meiner Mutter zu reden, die mich alle wie ein Kleinkind behandeln oder wie das wertvollste Stück in einer Kunstsammlung. Das hat Marcia gesagt, aber ich habe es auch angefangen zu bemerken. Sie hatte wie immer Recht. Aber heute ist es keine von ihnen, die anruft. Es ist Papa. Papa, der die Familie gespalten und zerstört hat. Papa, der uns alle ins Chaos gestürzt hat und wochenlang nicht schlafen ließ. Ein Stich durchfährt mich, fast wie Eifersucht, nur seltsam süß. Irgendwoher kommt plötzlich die Erinnerung, wie er mich das letzte Mal umarmt hat. Ohne ein Wort zu sagen, ohne zu wissen, was er sagt, falls nicht auch ihm die Worte fehlen, lege ich auf. Dann schreibe ich einen Zettel in der Küche, damit Mama ihn zurückrufen kann, wenn es um etwas Wichtiges geht. Ich gehe in mein Zimmer, mir wird schwarz vor Augen. Ich lasse mich auf mein Bett fallen. Ich stehe wieder auf und mache mein Radio an. Ich nehme mir einen Zettel und einen Bleistift und setze mich zurück, dann fange ich nachzudenken. Über alles, nur Papa lasse ich aus. Ich schaue dabei nicht auf das Blatt, meine Hand bewegt sich blind. Das ist ein Trick, den mir eine der Psychologinnen gezeigt hat, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe. Es hilft wirklich, die Gedanken wieder in Ordnung zu bringen, soweit das überhaupt möglich ist. Ich starre an die Wand, meine Gedanken bleiben aber nicht bei meiner Familie. Sie alle sind in unendliche Ferne gerückt, zusammen mit Marcia, Daniel und all den anderen. Zum ersten Mal seit langem höre ich auf die Musik. Kreischende Gitarren, wummernde Bässe, ekstatische Stimmen. Texte, die auch ich verstehe. Das ist meine Musik. Eine Musik ohne wahre Gefühle, die trotzdem mitreißt. Den Namen der Band werde ich nie wieder vergessen: Neonscream.

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