ID 8258d1
Leyla starrt Thomas fassungslos an. Er sitzt auf der Couch, während sie gerade vom Sessel aufgesprungen zu sein scheint. „Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein.“ Mir schießt ein Wort durch den Kopf. Wut. Eines der wenigen Gefühle, die ich erkenne. Immer, wenn ich mich am liebsten in einer Ecke zusammenrollen und weinen würde, ist jemand wütend. Ich greife nach der Fernbedienung und streife durch die Fernsehkanäle. Ich will gar nicht wissen, was los war. Die beiden Zwillinge sind ständig wütend in letzter Zeit. Seit Papa weg ist.
Ich höre auf, wahllos den Sender zu wechseln, und fange eine Erinnerung auf. Warum ich Mama und Papa sage. Einer der wenigen Momente, in denen ich nicht das Gefühl hatte, hier, überall hier, vollkommen fehl am Platz zu sein.
Es war mein zehnter Geburtstag. Bis dahin hatte ich mich an Bücher und die alten Filme, die Mama so gerne sieht, gehalten. Ich hatte meine Eltern Mutter und Vater genannt. Sie waren alle gekommen, um mich von der Schule abzuholen: Mama, Papa, Leyla und Thomas. Im Flur haben sie für mich gesungen, und viele Schüler und Lehrer haben sich dazugestellt und mitgemacht. Ich wusste nicht, warum, aber ich lächelte. Und dann war da ein kleines Mädchen, sie war gerade erst in der ersten Klasse, und ihre Mutter kam zur Tür herein. Gerade in dem Moment, als ich meiner Mutter um den Hals fallen wollte, rief sie ihr zu: „Mama!“ Ich zögerte kurz, dann flüsterte ich, so wie man es mir beigebracht hatte: „Danke.“ Und nach kurzem Zögern fügte ich noch Mama hinzu. Meine Eltern tauschten einen Blick und begannen ebenfalls zu lächeln. Ich war süchtig nach diesem Lächeln, und so behielt ich die Namen bei. Bis heute, wo sie schon längst Alltag geworden sind und meine Sucht nachgelassen hat. Wie gerne würde ich doch Leyla danach fragen… Aber als ich Marcia davon erzählt habe, wie es zwischen uns war und ist, hat sie gesagt, ich sollte sie lieber in Ruhe lassen. Sie wird schon von allein wieder zu mir kommen. Irgendwann. Und im Moment gibt es nur eine absolut unumstößliche Regel in meinem Leben: Was Marcia sagt, ist meine Wahrheit.
Oben knallt eine Tür, als Leyla sich in ihrem Zimmer einschließt, kurz darauf lassen Chopins schnellste Stücke in unnatürlicher Lautstärke unsere Köpfe schwirren. Thomas‘ Seufzer übertönen sie trotzdem nicht.
ID 8258d1, 171 months ago
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Ich bin heute Nachmittag allein zuhause, das heißt ich muss ans Telefon gehen. Ich hasse es, mit den…
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