ID 5mhato
Das Wasser prallt von meinem Bauch ab, jeder Tropfen zersplittert in zehn oder zwölf kleinere, die wie Scherben glitzern. Das Neonlicht brennt stumpfe Narben hinter meinen geschlossenen Lidern. Irgendwann wird das so unangenehm, dass ich das Wasser abstelle, den Kopf senke und die Augen öffne, um die Flecken zu vertreiben. Seltsamerweise habe ich Angst davor, dass sie – wenn ich das auch nur einmal nicht tue – nie wieder verschwinden.
Einmal habe ich darüber nachgedacht, wegzulaufen. Weg von hier, weg aus der Stadt. Ich habe geglaubt, meinen Fehlern entkommen zu können. Aber dann ist mir klar geworden, dass ich, egal wo ich hinkomme, immer mit alldem zu kämpfen haben werde. Marcia sagt, da draußen muss man kämpfen. Nur wie soll ich mich verteidigen, wenn ich nicht einmal merke, dass ich angegriffen werde? Wie kann es sein, dass es Menschen wie mich gibt? Bin ich vielleicht sogar die einzige? Was heißt das für mich?
Ich erinnere mich nur zu gut an ein Gespräch, das ich meine Eltern habe führen hören. Papa meinte, ich würde unsere Familie kaputt machen, und es gäbe sicher Menschen, Einrichtungen, die mir helfen könnten. Mama war strikt dagegen. „Es ist ja nicht so, dass sie keine Gefühle hat, Martin. Sie kann sie nur nicht zum Ausdruck bringen.“ Ja, das ist die Wahrheit. Ich selbst hätte es nicht besser sagen können. Aber ich spreche ohnehin so gut wie nie. Marcia hat oft versucht, das in Worte zu fassen, was an mir verkehrt ist, aber sie hat es nicht geschafft. Ich habe ihr Mamas Variante nie gesagt, sie ist wie ein kleines Geheimnis für mich. Mein Einziges.
Ich balle die Hände zu Fäusten und lasse mich endgültig auf den Boden sinken. Ich liege auf dem Bauch, das Gesicht gegen die Fliesen gepresst. Mein Körper tut weh, denn ich spanne ihn nicht nur an, sondern presse mich mit meiner ganzen Kraft an den kalten Boden. Schmerz, hat einmal ein Philosoph gesagt, ist das deutlichste Zeichen für Leben. Wer Schmerz empfindet, lebt. Ob ich innere Schmerzen habe, weiß ich nicht, und ich will auch Marcia nicht danach fragen. Aber äußerliches Leiden müsste eigentlich reichen, um mir selbst klar zu machen, dass ich lebe. Aber tue ich das wirklich? Oder existiere ich nur? Vielleicht ist der Unterschied zwischen Leben und Existenz ja gar nicht so groß, wie alle meinen. Ich reagiere nicht auf das, was meine Umwelt tut, und auch nur selten auf das, was aus mir herauskommt. Aber trotzdem habe ich einen eigenen Willen und treffe bewusst Entscheidungen. Aber reicht das, um mich einen lebenden Menschen zu nennen? Und was bin ich, wenn es nicht genügt?
Langsam richte ich mich auf. Immer dieselben Karussells in meinem Kopf, dieselben Gedanken, die sich drehen und drehen und drehen. Irgendwann muss das doch aufhören. Und ich habe niemanden, dem ich mich anvertrauen kann. schon wieder ein Satz, den ich von Marcia übernommen habe. Ich weiß, was er bedeuten soll, aber für mich klingt er leer, die Worte haben keine Bedeutung, als würde mir jemand beibringen, einen Satz auf Arabisch zu sagen. Ich könnte zwar die Laute nachahmen, aber sie sagen mir nichts, bringen keine Saite in mir zum Klingen. Marcia liebt diesen Ausdruck. Sie hat lange Geige gespielt, bis sie sich irgendwann den kleinen Finger gebrochen hat. Ganz geheilt ist die Verletzung nie, er ist jetzt ein wenig gekrümmt und steht ab. Es ist nicht viel, man sieht es nicht einmal, aber um Geige zu spielen, ist er zu sehr verändert. Ich habe sie nach der Operation kennen gelernt, sie hat sich neben mich gesetzt, in die erste Reihe, als wäre sie schon immer da gewesen. Ich glaube am Anfang dachte sie, ich sei genauso eine verletzte Seele wie sie. Dann hat sie aber bemerkt, dass es an meiner Natur liegt, und angefangen, mir zu helfen. Sie hat den Dingen für mich Namen gegeben, aber es waren ihre Gefühle, nicht meine. Auch wenn ich am Anfang glaubte, mehr zu verstehen, lernte ich mehr und mehr über sie, aber nichts über mich. Vielleicht ist das ja immer so. Ich habe keine Ahnung vom Leben.
Ich drücke die Fäuste auf meine geöffneten Augen. Meistens kommt dadurch das Karussell zum Stillstand, zumindest für ein paar Sekunden. Aber heute nicht. Was ist nur geschehen? Was habe ich getan, dass es nicht mehr aufhört? Ich schreie, lasse alles heraus, was ich kann, trommle gegen die Wand und falle schließlich schluchzend auf die Knie.
ID 5mhato, 171 months ago
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Ich bin heute Nachmittag allein zuhause, das heißt ich muss ans Telefon gehen. Ich hasse es, mit den…
0 Activity: 1%, Views: 1093, Chars: 1877, 170 months ago
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