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"Und Sie sind sich ganz sicher, dass Ihr Chef in dieser Gitterbox gelegen hat?" Kriminaloberkommissar Lange bohrte mit der dritten Wiederholung seiner Frage tief hinein in Selinas Selbstsicherheit. Entsprechend patzig reagierte diese: "Mir entgeht in diesem Laden nichts", fauchte sie den kleinen Dicken vor sich an, dass dieser erschrocken einen Schritt zurückwich. "Und schon gar nicht eine Leiche in unserer Postbox; zumal, wenn es sich um unseren beliebten Chef handelt."
"Beliebter Chef. Soso", brummte KOK Lange und schielte unauffällig zu Karin hinüber. Karin Blaff, Kriminalkommissarin, einen Kopf größer als ihr Vorgesetzter und, wie KOK Lange verbittert vermutete, um ein erhebliches attraktiver und allemal beliebter als er, betrachtete versonnen die vielen dicken Umschläge und Päckchen in der Drahtbox.
"Karin!"
"Ja Chef."
" Sie rufen die Spurensicherung herbei und sorgen dafür, dass sich niemand an und schon gar nicht in der Kiste zu schaffen macht."
"Mach ich, Chef." Die Polizistin lehnte sich mit faustgroßer Gürtelschnalle vorm nicht vorhandenen Bauch an die Oberkante der Box, zog ein Handy aus einer der vielen Taschen ihrer verschlissenen Jeansjacke und telefonierte nach einem tiefstes Mitleid erheischendem Seufzer erst einmal mit ihrer Schwester. Schließlich war sie mit dieser in einer halben Stunde in der Gewölbe-Sauna verabredet, wohin sie es definitiv nicht mehr schaffen würde.
"Also, bis dann Lis. Wir sehen uns morgen", beendete sie nach wenigen Minuten das Gespräch und suchte nach der gespeicherten Nummer der Spurensicherung.
"Wieso morgen?" blaffte KOK Lange. "Wir brauchen die Spusi jetzt hier." Karin, die in diesem Moment einen der Spezialisten an den Hörer bekam, sagte diesem die Adresse des Einsatzortes und ließ das Handy in ihrer Hand. Sie wollte noch ein paar Fotos schießen.
"Sind in zwanzig Minuten da", informierte sie ihren kleinen Dicken, wie auch sie ihn heimlich nannte.
"Aber ...", wollte KOK Lange erst eine Erklärung einfordern, ließ es dann aber. Jetzt auch noch eine kratzbürstige Reaktion seiner Assistentin, und der Rest des Tages wäre endgültig versaut.

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Als die Spusi endlich eintraf, hatte sich bereits die ganze Firma versammel und alle redeten durcheinander. Niemand wußte was passiert war und natürlich hatte niemand etwas gesehen, aber alle redeten über ihre Theorien. KOK Lange versuchte verzweifelt die Meute in Schach zu halten, aber er wurde einfach nur von allen ignoriert.
"Verdammt" nuschelte er, "Wenn ich größer wäre, würde mir das nicht laufend passieren und wo steckt überhaupt Karin schon wieder?"
In diesem Moment kam Karin um die Ecke mit einem gutaussehenden, jungen, großen Mann in Jeans und mit T-Shirt bekleidet und einer jungen Frau, die einen halben Kopf kleiner war als der Mann, langen schwarz/rot gefärbten Haaren und frechen Totenkopfklamotten.
"Das sind Johannes Martinius und Ariane Schwarz" erklärte Karin ihrem Chef ein paar Sekunden Später.
"Mein Name ist Johannes, aber alle nennen mich nur Jojo und das ist meine Kollegin und rechte Hand Ariane Schwarz."
"Können sie bitte dem Treiben hier ein Ende setzen, damit wir arbeiten können?" fragte KOK Lange.
"Ok, alle mal herhören" rief Jojo. "Jeder der in 30 Sekunden nicht an seinem Arbeitesplatz ist, bekommt heute keine Pause mehr, die habt ihr dann mit eurer gafferei ausgebraucht"
Ein raunen ging durch die Menge, aber alle setzten sich in Bewegung und gingen wieder ihrer Arbeit nach.
"Können wir ihnen irgendwie behilflich sein?" erkundigte sich Ariane.
"Ja, sie Beide könnten mir ein paar Fragen beanworten, gibt es hier einen ruhigen Platz, wo wir uns in Ruhe unterhalten können?" fragte KOK Lange.
"Wie wäre es mit meinem Büro?" schulg Jojo vor.
KOK Lange befand den Vorschlag für gut und wies Karin an, auch Selina dazu zu bitten.

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"Ausgezeichnet", lobte KOK Lange und schlürfte genüsslich schwarzes Gebräu aus einer kleinen Mocca-Tasse. Jojo Martinius hatte sie ihm zu seiner Verwunderung höchstpersönlich selbst bereitet. Ariane Schwarz hatte dankend abgelehnt. Sie saß Lange gegenüber und zappelte unruhig auf dem gepolsterten Besucherstuhl à la Benz herum.
Ganz schön nervös, das Mädchen, dachte Lange und wandte sich schnell Jojo zu, bevor sein Blick die zittrigen Beine weiter hoch zum ersten Totenkopf wandern konnte. Leicht nach vorne gebeugt betrachtete er sein Gegenüber, der völlig entspannt an dem Bord mit der ultramodernen Expresso-Maschine stand und ebenfalls aus einer kleinen Tasse trank. Der abgespreizte kleine Finger wirkte für Langes Geschmack ein wenig zu affektiert, ansonsten machte der Mann vor ihm einen guten Eindruck.
"Herr Martinius, darf ich Sie bitten, mir ein wenig zu helfen, mich zurechtzufinden?" fragte Lange freundlich.
"Im Moment blick ich selbst nicht durch", reagierte Jojo gelassen. "Aber selbstverständlich helfe ich Ihnen, soweit es mir möglich ist."
"Prima", antwortete Lange und setzte die leere Tasse mit einem Klack direkt vor Ariane auf den Tisch. Die zuckte dermaßen zusammen, dass Lange sich aufgefordert sah, ihr sein Speziallächeln zuzumuten. Damit hatte er schon so manchen Ganoven im Verhör weichgekocht .
"Warum sind Sie so nervös, Frau Schwarze? Haben Sie mir vielleicht etwas zu sagen?" Seine Stimme, weich und schmeichelnd, bewirkte bei Ariane keine sichtbare Entspannung.
"Ich frage mich, wo Selina bleibt", sagte Ariane leise.
"Selina?"
"Selina Neumann. Meine Kollegin, die, die unseren Chef in der Postkiste gesehen hat.
Ach so, stimmt ja, dachte Lange. Wo, verflixt noch mal, stecken Karin und diese Zeugin?
Grübelnd sah er Ariane an, wollte sich durch diese Ablenkung nicht abspeisen lassen: "Warum ist Ihnen die Anwesenheit Ihrer Kollegin so wichtig?"
"Ist sie nicht."
"Nein? Warum sind Sie dann so nervös?"
"Bin ich doch gar nicht."
Ohne Vorwarnung klatschte Langes rechte Hand auf das Glas, dass die Mocca-Tasse nur so tanzte. Ariane erstarrte; Jojo bekam vor Schreck einen Schluckauf.
"So, meine Liebe, jetzt ist es aber genug mit diesem albernen Getue. Sie sagen mir jetzt auf der Stelle, was mit Ihrer Kollegin Neumann nicht stimmt! Und Sie ...", damit wandte er sich ruckartig Jojo zu, "... sagen mir jetzt auf der Stelle, wo Ihr Chef steckt!"
"Kann ich nicht. Weiß ich nicht. Und Ihr Ton gefällt mir auch nicht", schnauzte Jojo den Polizisten an, dass der sich nur noch wunderte. Jojo war zufrieden. Sein Schluckauf war mit den Worten hinaus geflogen.
Hat denn niemand mehr Respekt vor mir, der Polizei, dachte Lange und wollte gerade eine entsprechende Erwiderung raushauen, als die Tür neben Jojo aufsprang und eine sichtbar verärgerte Kriminalkommissarin Blaff hereinstürzte: "Sie ist weg!"

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Ariane schrie vor Schreck auf und fuhr die Frau an: "Was soll das heißen sie ist weg, verdammt noch mal, sie müssen sie finden, sie ist psychisch sehr labil, sie tut sich sicher was an."
"Beruhige dich Kleine" ,versuchte Jojo sie zu beschwichtigen, "ich bin sicher das nichts passiert." Sanft nahm er sie in den Arm.
KOK räusperte sich. "Geben sie eine Fahndung nach ihr raus" befahl er seiner Kollegin und an Ariane und Jojo gewannt fragte er: "Sie sie nur Kollegen, oder auch ein Paar?"
Jojo funkelte ihn böse an und antwortete: "Wir sind Kollegen und Freunde, nicht mehr und nicht weniger, ich bin bereiz vergeben."
Ariane seufzte und dachte bei sich, dass es leider stimmte, dabei war sie schon über ein Jahr in Jojo verliebt.
"Gut" stellte KOK Lange fest, "dann erstmal zu ihren Personalen."
Jojo schaute ihn gelangweilt an und graulte demonstrativ weiter seiner jungen Kollegin den Kopf. Irgendwie weckte sie seinen Beschützerinstinkt, dabei war sie nur vier Jahre junger als er.
"Also, mein Name ist Johannes Martinius. Geboren am 1. Mai 1979. Meine Adresse finden sie auf meinem Ausweis. Ich bin Schichtleiter in dem Laden."
"Aha, sehr schön" murmelte der Kommissar und machte sich fleißig Notizen.
"Und sie junge Dame?"
Ich heiße Ariane Schwarz. Geboren am 4. Juli 1983. Ich wohne in der Straße des Friedens 149, hier in Berlin. Ich bin für die Auftragsbearbeitung zuständig."
"Sei nicht so bescheiden Kleines" warf Jojo ungefragt ein. "Sie ist auch meine rechte Hand, ohne sie würde die Firma glatt untergehen."
"Verstehe" kam es zögernd von KOK Lange. "Dann jetzt also zu meinen Fragen.
"1. Gibt es eine Leiche?
2. Wo ist die Leiche jetzt?
3. Wo ist Selina?
4. Warum ist sie auf der Flucht?
5. Wer hatte ein Motiv für die Tat?"
Neugierig sah er seine Zeugen an.

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Karin hatte die Nase voll von Langes Vorgehensweise. Das ist doch keine professionelle Ermittlungsarbeit, dachte sie mürrisch. Hastig beugte sie sich zu Lange hinunter, der am Glastisch sitzengeblieben war und Jojos zärtliches Gehabe an seiner Kollegin beobachtete.
"Chef! Könnte ich Sie mal eben alleine sprechen?" Lange drehte sich um und schaute auf zu seiner Mitarbeiterin.
"Natürlich", sagte er und wandte sich an Jojo: "Würden Sie uns einen Moment alleine lassen?"
Jojo, nahm Ariane an die Hand und verließ mit ihr sein Büro.
Kaum war die Tür hinter den beiden zugefallen, setzte sich Karin auf den zuvor von Ariane genutzten Stuhl vis-à-vis zu Lange und suchte nach den richtigen Worten. Wie sagt man seinem Vorgesetzten, dass er ein Idiot ist, ohne dass dieser einen gleich für eine bescheidene Karriere bei der Schutzpolizei vorschlägt?
Gar nicht, entschied Karin, schmeichle ihm; streiche ihm Honig um den Bart.
"Na, Mädchen, wo drückt der Schuh?"
Manchmal könnte ich dir eine knallen, dachte Karin und lächelte: "Sie haben bestimmt einen Grund, Tatverdächtige an Ihren Überlegungen teilhaben zu lassen? Aber, nehmen Sie's mir nicht übel, was bezwecken Sie damit?"
Lange lächelte zurück: "Entspricht nicht so ganz dem, was Sie auf der Polizeiakademie gelernt haben, wie?"
"Nicht so ganz."
"Wir sind noch nicht solange zusammen. Vergesse ich manchmal. Aber ich gehe schon mal meine eigenen Wege, um ans Ziel zu kommen. Was diese Geschichte angeht, habe ich sowas von keinen Plan, dass ich beschlossen habe, die Angestellten nervös zu halten, indem ich sie ständig auf dem Laufenden unserer Ermittlung halten werde. Mal sehen, was dabei herauskommt." Karin sah ihn leicht irritiert an; wusste nicht, was sie davon halten sollte.
"Und noch was: Das ich Sie manchmal als Mädchen betitel, können Sie getrost als ein Zeichen meiner Wertschätzung Ihnen gegenüber ansehen. Kollegen, die ich nicht mag oder für unfähig halte, spreche ich nämlich ausschließlich mit ihrem Dienstgrad an. So, und nun klären wir als Erstes, warum unsere einzige Zeugin für eine Leiche ebenso verschwunden ist, wie die Leiche selbst. In Ordnung?"
"In Ordnung", erklärte Karin.

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Jojo und Ariane hatten sich in der Zwischenzeit in die Raucherecke verkrümelt.
„Jojo, ich habe Angst.“
„Brauchst du nicht, ich pass schon auf dich auf.“
„Ich werde versuchen Selina zu erreichen.“
Ariane nahm ihr Handy aus der Tasche und wollte gerade wählen, als Jojo ihr sanft das Handy wegnahm.
„Nicht Kleines. Erstens haben wir hier Handyverbot.“ Er blies Rauch aus. „Und zweitens würden die Schnüffler sich gleich wieder auf dich stürzen, wenn sie es merken.“
„Wie soll ich sie dann erreichen?“
„Wir fahren heute Abend zu mir, meine Freundin ist diese Woche auf Weiterbildung.“
Bei dem Wort Freundin zucke Ariane kaum merklich zusammen.
„Ok, danke das ist Lieb von dir.“
„Kein Problem, der Freund von meiner Schwester hat da am Wochenende sein Handy liegen lassen, das können wir Problemlos nutzen.“

In diesem Moment räusperte sich jemand im Hintergrund. Würden sie bitte mitkommen, die Vernehmung geht weiter.

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Karin führte die beiden zurück in Jojos Büro.
Lange stand mit dem Rücken an die Bank des einzigen Fensters gelehnt und atmete schwer. Er war sauer. Trotz intensivster Bemühung war es ihm nicht gelungen, das alberne Fenster zu öffnen.
"Nehmen Sie bitte Platz", bat er schnaufend das verunsichert dreinblickende Paar und zeigte auf die von ihm nebeneinander aufgestellten Stühle am Glastisch.
"Und Sie geben mit bitte das Handy aus Ihrer rechten Hosentasche", forderte Karin brüsk von Jojo und hielt ihm ihre Hand entgegen. Der tat wie ihm geheißen, bevor er sich neben Ariane setzte.
"Warum behandeln Sie uns so streng", zickte Ariane, "Wir haben nichts getan." Wütend riss sie sich los, als Jojo ihr eine Hand in den Nacken legte.
"Lass das! Freundin wie?"
"Nicht so, wie du denkst. Wir reden später darüber." Jojos Stimme klang beschwörend.
"Frau Neumann! Schön das ich Sie endlich erreiche", flötete Karin in Arianes Handy. "Ob es Ihnen möglich ist, noch einmal zurück zum Verlag zu kommen?"
Karin lauschte ins Gerät. Plötzlich rief sie erschrocken: "Sie haben was?"

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"Sie bleiben wo Sie sind. Wo sind Sie überhaupt?" Aufgeregt bittet Karin per Handzeichen ihren Chef mitzuschreiben, der auch sofort Block und Stift aus seiner Jackentasche zieht.
"Schönhauser Allee, Jüdischer Friedhof. Alles klar. Wir sind gleich bei Ihnen."
Lange war aufgesprungen und fingerte wie wild an seinem Handy rum.
"Verflixt und zugenäht! Wieso tut's das Navi nicht?" schimpfte er und sah sich um.
"Brauchen wir nicht. Der Friedhof ist gleich um die Ecke. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg", rief Jojo und stürmte auf die von Karin bereits geöffnete Tür zu. Ariane blieb zusammengesunken sitzen und dachte über ihre persönlichen Probleme nach.

Im Laufschritt erreichten Karin und Jojo den Friedhofseingang an der Knaackstraße. Dass sie hier auf Lange warten mussten, brachte Karin auf die Palme. "Lahmarsch", knurrte sie leise und ergänzte in Gedanken: Nicht nur Lügen haben kurze Beine.
Endlich erreichte der Mann mit den kurzen Beinen schwer nach Luft ringend Karin und Jojo.
"Und, wo ist sie?" japste er.
"Bei den großen Familiengrüften. Mehr weiß ich auch nicht", rief sie zurück, nachdem sie bereits einige Meter den Hauptweg hinunter gelaufen war.
Lange bekam langsam wieder Luft.
"Und der Goldig ist bei ihr?"
"Hat sie gesagt."
"Tot?"
"Hat sie nicht gesagt."
"Also gut", bestimmte Lange, mit frisch getankter Luft wieder ganz Chef. Er zeigte auf Jojo: "Sie suchen links, Karin rechts, ich laufe den Hauptweg runter. Wenn jemand sie gefunden hat, einfach laut rufen."
Und bevor Karin etwas einwenden konnte: "Und kommen Sie mir ja nicht mit der Totenruhe oder son'n Scheiß."

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Jojo entdeckte sie zuerst. Kein Wunder, da nur er den Mann kannte, der über einer Grube kniete und sich nicht zu rühren wagte. Drei Schritte entfernt, im Schatten einer riesigen Steinplatte mit mehreren Inschriften, stand Selina. Der Revolver wirkte wie eine Kanone in ihren schmalen Händen.
Vorsichtig trat Jojo näher heran, sodass er einen Blick in die Grube werfen konnte. Erschrocken wich er zurück. Hermann Goldig sah gar nicht mehr goldig aus.
Jojo sah sich um und entdeckte Lange, der in diesem Augenblick vom Hauptweg aus zu ihm herüber sah. Jojo winkte ihn heran. Totenstille lag beklemmend über dem Areal. Und natürlich fing es in diesem Moment auch an zu regnen.
"Selina. Selina!" Erst der energische Ton weckte Selina aus ihrer Konzentration auf Franz Brecht. Sie sah zu Jojo hinüber, neben dem sich soeben der kleine Polizist aufgestellt hatte. Unschlüssig hielt sie noch immer den Revolver auf Brecht gerichtet; wusste nicht, ob der Bulle Franz endlich festnehmen würde.
Lange hatte sich erst einmal einen Überblick geschafft, bevor er zur Tat schritt.
"In dem Loch liegt Ihr Chef?" fragte er Jojo und zeigte auf Franz Brecht.
"Und das ist...?"
"Franz Brecht, unser Betriebsratsvorsitzender", murmelte Jojo.
"Und außerdem Goldig sein Mörder", kreischte Selina plötzlich los und fuchtelte nervös mit der Waffe herum.
"Gemach, Junge Frau", rief Lange, "nehmen Sie bitte die Waffe herunter."
Karin, von den Stimmen angelockt, stand nur ein Schritt von Selina entfernt, als diese den Revolver senkte. Karin griff augenblicklich zu und sorgte somit dafür, dass Selina endlich ihre schreckliche Angst und die damit verbundene Anspannung abwerfen konnte. Weinend sank sie auf die Knie.

Nachdem Franz Brecht noch auf dem Friedhof die Tat gestanden hatte, war der Mörder von einer von Karin herbeigerufenen Streife zum Präsidium abtransportiert und eingesperrt worden. Als er Karin und Lange sein Motiv genannt hatte, waren diese wortlos zum Verlagsgebäude zurückgegangen, wohin sie Jojo und Selina vorab schon hingeschickt hatten.
Die gesamte Belegschaft wartete bereits in Jojos Büro. Niemand sagte etwas; alle glotzten sie irgendwohin, nur nicht zu den Kollegen oder Polizisten.
Lange sortierte noch einmal seine Gedanken, dann erklärte er in wenigen Worten den Stand der Dinge: "Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen ganz schnell den uns bis jetzt bekannten Sachverhalt darstellen, damit meine Kollegin und ich dann schleunigst ins Polizeipräsidium fahren können, wo noch eine Menge Arbeit auf uns wartet. Es war Frau Neumann, die heute Morgen als einzige Ihren Chef tot in der Postkiste gesehen hatte. Franz Brecht, der Goldig eine halbe Stunde zuvor im Affekt erschossen hatte, brachte Goldig seine Leiche mit einem von Pappe umschlossenen Rollwagen zu dem nahe gelegenen Jüdischen Friedhof, um ihn dort in einer von ihm vorbereiteten Grube zu vergraben. Frau Neumann, die von mir etwas hart angegangen worden war, wofür ich um Verzeihung bitte, war natürlich bestrebt zu beweisen, dass es den von ihr entdeckten Toten wirklich gab. Also durchwühlte sie sämtliche Kisten noch einmal und fand den Revolver, von dem sie wusste, dass er Franz Brecht gehörte. Wieso unsere Spurensucher die Waffe nicht gefunden haben, werden die mir auch noch erklären dürfen. Da freue ich mich jetzt schon drauf, wie Sie Sich vorstellen können." Das folgende Gelächter sorgte für eine erste Entspannung unter der Belegschaft. Danach hörte man sofort wieder gespannt zu.
"Frau Neumann also, klug, wie sie nun einmal ist - eine Verbeugung Langes in Selinas Richtung wurde mit einem Lächeln quittiert - kombinierte richtig und sah sofort in Brechts Büro nach. Als sie den Verdächtigen nicht vorfand, sah sie eher zufällig aus dem Fenster und Franz Brecht mit einem blickgeschützten Rollwagen in Richtung Friedhof davon schieben. Sie nahm sofort die Verfolgung auf, ohne uns, die anwesende Polizei, zu verständigen, wofür ich sie bereits gerügt habe."
Selinas um Abbitte erhobenen Hände wurden von Lange mit einem Lächeln quittiert, bevor er fortfuhr: " Auf dem Friedhof stellte sie Franz Brecht und hatte dann Glück, dass meine Kollegin sie, einem Instinkt folgend, in diesem Moment anrief. Den Rest der Geschichte hat Ihnen bestimmt schon Herr Martinius erzählt." Ein allgemeines Nicken bestätigte dieses.
Ariane, die bis hierhin ausschließlich Jojo angesehen hatte, stellte die Frage: "Was hat Franz denn nun gesagt, warum er Goldig erschossen hat?"
"Tja", sagte Lange nach einer spannungsaufbauenden Pause. Noch einmal räusperte er sich: "Herr Brecht hatte Ihrem Chef dabei ertappt, wie dieser mit dem Anwalt der Firma über die Möglichkeit einer Arbeitszeiterhöhung sprach. Daraufhin von Brecht zur Rede gestellt, hatte Goldig ihm mit fristloser Entlassung gedroht, wenn er dieses Gespräch weiter erzählen würde. Ich weiß es noch nicht, vermute es aber, dass damit ein Fass an Frustrationen übergelaufen und Brecht schlichtweg durchgedreht ist."
"Aber", meldete sich einer der Angestellten schüchtern, "Brecht war doch als Betriebsratsvorsitzender unkündbar."
"Ich sagte ja bereits", antwortete Lange müde: "Der Mann ist durchgedreht. Das Maß war einfach voll."

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