Die sanfte Anfangsmusik von "Wonderful Life" füllte Lindas Kopf und sie formte mit dem Mund die Worte mit, die sie bereits inn und auswendig kannte. Sie saß in dem kühlen Keller ihrer Schule und ließ die Beine über das breite Fensterbrett baumeln. Den Kopf hatte sie an die kalte Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen. Sie hörte die Schritte und Rufe der Schüler nicht, die am anderen Ende des Gangs aus dem Fahrradkeller gestürmt kamen und die Treppen hinaufpolterten.
Es schien, als würden die Worte direkt in ihrem Kopf widerhallen. Die Instrumente schienen in ihrem Kopf zu sein und dort ihre Melodie zu spielen. Sie hörte nichts sonst. Und darum war sie sehr froh.
Sie seufzte und sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Es waren nur noch fünf Minuten, bis der Unterricht begann. Sie nahm schweren Herzens die Ohrstöpsel heraus, wickelte den MP3-Player auf und verstaute ihn sicher in ihrer Schultasche. Dann sprang sie vom Fensterbrett, klemmte sich den Ordner unter den Arm und machte sich auf den Weg zu ihrem Klassenzimmer.
Die Schule war sehr groß, hatte zu viele Schüler und zu wenig Klassenzimmer, viele Lehrer und keinen Ort, wo man vor dem Gelärm der ganzen Schülerschar in Sicherheit wäre. Der Keller war der einzige relativ ruhige Ort, obwohl auch dort viele Schüler waren, wenn sie Informatik hatten.
Linda atmete tief durch und drängte sich mit zu Boden gesenkten Augen durch die Fünftklässler. Sowohl die Große und die Alte Aula waren voller Menschen. Rasch huschte sie die Treppen in den zweiten Stock hinauf und wartete vor dem Klassenzimmer, in dem sie nun Englisch haben würden. Sie mochte Englisch. Und Kunst. Und Psychologie.
Heute war der erste richtige Schultag. Noch zwei Jahre und sie würde das Abitur machen. Sofern sie das Schuljahr überstand.
Es dauerte nicht lange, bis alle Schüler des Englischkurses anwesend waren und sich abseits in Gruppen aufstellten.
Linda beachtete sie nicht, sondern ging in Gedanken den Text des Liedes, das sie eben gehört hatte, durch.
"Never give up ... it's such a wonderful life...", murmelte sie vor sich hin und versuchte, diese Worte auf ihr Leben zu übertragen. Aber es gelang ihr nicht ganz.
Dann erschien der Lehrer und sie betraten das Klassenzimmer. Linda suchte sich einen Platz weiter vorne aus und setzte sich in die dritte Reihe am Fenster. Sie liebte die Fensterplätze.
Natürlich setzte sich keiner der anderen neben sie. Es gab genug freie Plätze, weshalb sollten sie sich also ausgerechnet neben sie setzten? Sie seufzte stumm und stützte das Kinn in die Hände und schaute nach draußen. Der Himmel war ein wenig bewölkt und es ging ein kalter Wind, der die losen Blätter von den bunten Bäumen herunterriss und fort wehte. Sehnsüchtig blickte sie ihn hinterher.
Der Unterricht begann und der Englischlehrer sagte alle Namen auf, um die Anwesenheit zu kontrollieren. Als Linda aufgerufen wurde, sagte sie nur: "Hier." und schaute dann wieder nach draußen.
Während der Lehrer von organisatorischen Dingen sprach, hörte Linda nicht zu. Das alles hatten sie schon letzte Woche von anderen Lehrern gehört. Sie betrachtete die Bäume, die sich leicht im Wind hin und her bewegten.
"Linda."
Ihr Kopf zuckte herum und sie starrte direkt in die Augen des Lehrers. Er hatte sehr helle blaue Augen und dunkles strubbeliges Haar. Erstaunlich jung war er und - wie die meisten Mädchen wohl schon längst erkannt hatten - gut aussehend.
Doch all das wurde bald von einem leicht angesäuerten Gefühl in ihrer Magengegend verdrängt und stimmlose Gedanken rasten durch ihren Kopf: "Wieso passen die Schüler heutzutage nie auf? Und das am ersten Tag. Und wieso sitzt sie allein? Wahrscheinlich ein Außenseiter. Ich sollte nicht voreilig sein. Vielleicht hat sie nur nicht so viele Freunde. Ist etwas schlimm daran?"
Lindas Kehle schnürte sich zu und sie musste alle Macht über ihren Körper aufbieten, um den Blick von den blauen Augen wegreißen zu können.
"Tut mir Leid", sagte sie und starrte auf die dreckige Wand vor sich. Das verärgerte Gefühl in ihrem Bauch war verschwunden und die Gedanken waren wieder die ihren.
"Schon gut. Pass das nächste Mal einfach auf, ja?"
Sie nickte und hörte vereinzeltes Gekicher von hinten. Aber sie achtete nicht darauf. Der Lehrer fuhr mit dem Unterricht fort und Linda schluckte schwer. Sie hatte es schon wieder getan. Sie wusste es und warum hatte sie es dann schon wieder gemacht?
Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt.
Sie seufzte. Nun ja, jetzt war es eben mal passiert und sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Seufzend wiederholte sie seine Worte in ihrem Kopf ...Wahrscheinlich ein Außenseiter... wieso sitzt sie alleine...nicht viele Freunde...Linda schluckte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass sich mit dem Schulwechsel etwas veränderte, aber eigentlich...sie war immer noch die Außenseiterin. Das spürte sie. Wieder hatte sich niemand neben sie gesetzt. Wieder sah sie nur beschämt fort.
Traurig begann sie in ihr leeres Heft zu kritzeln, was aufgeschlagen vor ihr lag. Kreise, Striche, Smilies, Herzen, Sterne, das Haus vom Nikolaus...nichts bestimmtes.
" Ah Linda."
Sie zuckte zusammen: Nicht schon wieder eine Ermahnung.
" Sehr gut, du machst dir Notizen. Nehmt euch ein Beispiel." Puh...gerade so noch mal davon gekommen...ihre Kritzeleien waren nun also Notizen? Amüsant.
Dumm nur, dass das ihrem Beliebtheitsquotienten nicht gerade gut tat. Im Gegenteil sie hörte schon wieder Getuschel. Was sie wohl denken mochten? Dass sie eine blöde Streberin sei, und sowieso seltsam? Ein Blick würde ausreichen, um diese Frage zu beantworten...
Ihr Kopf bewegte sich bereits nach rechts, doch dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf und zwang sich, wieder auf ihr voll gekritzeltes Blatt zu starren. Was kümmerte es sie, was die anderen dachten? Wieso wollte sie die Feindseligkeit, die in ihren Blicken lag, körperlich spüren und im Geiste hören? Das brauchte sie sich nun wirklich nicht auch noch anzutun. Reichte ja schon, dass der Lehrer sie als Freak abgestempelt hatte, auch wenn er sie gerade irgendwie gelobt hatte...Aber das half ihr auch nicht gerade viel.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis die Stunde endlich aus war. Die Schüler stürmten alle gleichzeitig nach draußen und Linda wartete, bis sie alle verschwunden waren, erst dann schulterte sie ihre Tasche und ging auf die Tür zu.
"Wartest du noch bitte einen Moment, Linda?", ertönte eine Stimme hinter ihr und sie drehte sich erschrocken um. Der Lehrer - wie hieß er denn noch gleich?! - packte immer noch seine Sachen zusammen und blickte auf. Rasch senkte sie den Blick und biss sich auf die Lippe. Sie wollte seine Gedanken kein zweites Mal hören.
"Du bist neu hier, oder?", fragte er und trat neben sie. Sie widerstand dem Drang, ihn anzuschauen und nickte nur stumm. Dann hörte sie ein amüsiertes Lachen und aus reiner Neugierde hob sie den Kopf. Er war ungefähr nur einen Kopf größer als Linda selbst und bei seinem Lachen verengten sich die blauen Augen zu kleinen Schlitzen. Grübchen bildeten sich in seinen Wangen.
"Trifft sich gut. Ich auch. Ich habe fast meine erste Stunde hier verpasst, weil ich nach einem Klassenzimmer suchen musste. Diese Pläne sind ja auch nicht gerade hilfreich", plauderte er munter drauf los und ging vor ihr aus der Tür. Sie starrte auf seinen Rücken und fragte sich, was er eigentlich von ihr wollte. Ein unangenehmes Kribbeln ergriff von ihr Besitz und sie verzog das Gesicht. Irgendwie war er ihr unheimlich.
Stumm folgte sie ihm nach draußen und wandte sich nach rechts. "Mein Klassenzimmer liegt hier drüben", sagte sie, ohne ihn anzusehen, und deutete mit dem Daumen über die Schulter, als wäre das eine Entschuldigung, dass sie ihn nicht begleiten könne, wie er es vielleicht von ihr erwartet hatte.
Komischer Lehrer, dachte sie.
"Oh, ok. Wir sehen uns dann später."
"Ja."
Sie wartete einen Moment, dann schaute sie auf. Er stand noch immer vor ihr und blickte sie nachdenklich an. Ein Stich der Überraschung durchfuhr sie und es war, als würden seine blauen Augen sie regelrecht festhalten.
Zu ihrer eigenen Überraschung kam noch Neugierde hinzu, die nich von ihr stammte.
"Wieso schaut sie einen nie an? Ist sie etwa derart schüchtern? Aber sie ist doch ein nettes Mädchen, oder nicht? Trotzdem ein wenig komisch..."
Rasch riss sie sich von seinem Blick los und es blieb nur Leere in ihr zurück.
"Ich geh dann mal", sagte sie mit monotoner Stimme und wandte sich um. Sie konnte beinahe körperlich den Blick in ihrem Nacken spüren, was sie nur dazu brachte, noch schneller zu laufen, bis sie fast rannte. Als sie im angrenzenden Klassenzimmer angekommen war, atmete sie erleichtert auf.
Sie würde vorsichtiger sein müssen. Sie wollte von ihren Fähigkeiten so wenig wie möglich Gebrauch machen.
Sie wollte normal sein, wie all die anderen Mädchen in ihrem Alter auch.
Von ganzem Herzen.
Fast musste sie lachen.
Es gab keine Chance für sie "normal" zu sein, wenn sie niemals einem Menschen ins Gesicht sehen konnte. Sogar dem Lehrer war das aufgefallen. Sie würde nicht normal sein, solange sie den Blick zu anderen scheute. Blickkontakt ist alles, das A- und O eine Freundschaft, hatte mal irgendwer gesagt. Vielleicht ihre Mutter.
Sie musste unbedingt gegen diese Gabe ankämpfen. Es konnte doch nicht sein, dass sie jedes Mal Gedanken lesen konnte, wenn sie Jemanden ansah, das war nicht fair!
Vielleicht sollte sie es mal mit einer Brille probieren., schoss es ihr durch den Kopf. Vielleicht würde es die Gabe hemmen. Eine Blockade zwischen ihrem Auge und der Person vor ihr errichten...
Während sie sich ihren gewohnten Platz am Fenster erkämpfte, dachte sie darüber nach. Ihr Vater hatte eine Brille, die er kaum trug. Eine hässliche, dicke Hornbrille. Aber sie musste ja nur mal testen, ob das überhaupt funktionierte. In ihr regte sich etwas, das sich wie Hoffnung anfühlte. So etwas hatte sie schon lange nicht mehr gespürt.
Der Lateinunterricht war tödlich langweilig, obwohl sie doch einiges mitbekam und sich sogar einmal gemeldet hatte, um einen ihrer kaum verständlichen Unterrichtsbeiträge abzuliefern.
Am Ende stürtem sie alle in die Pause und Linda war mal wieder die Letzte, die das Klassenzimmer verließ. Sie schlenderte in Richtung Schließfächer und kramte währendessen ihren Schlüssel aus den Untiefen ihrer Schultasche. Sie hasste es, wenn sie ihren Schlüssel nicht fand.
Als sie ihn dann endlich in Händen hielt, wurde sie heftig von hinten angerempelt und ihr flog der Schlüsselbund aus den Händen. Und landete direkt vor ein Paar schwarzen Stöckelschuhen.
"Huch!", hörte sie jemanden ausrufen und eine Hand mit roten Fingernägeln langte nach dem Schlüssel und hob ihn auf. Dünne Beine, eine schwarze Leggins, ein dunkles Shirt, das knapp über den Hintern reichte und einen tiefen Ausschnitt hatte. Dunkelbraunes, gewelltes Haar und einen rot angemalten Mund.
"Gehört der dir?", fragte das Mädchen und hielt ihr den Schlüssel hin. Linda nickte und nahm ihn.
"Danke."
"Kein Problem. Manche Schüler sind wirklich unhöflich, findest du nicht?", trällerte die Stimme weiter und die Hand legte sich auf die Hüfte. Linda lächelte schwach und nickte.
"Ja. Das stimmt wohl." Sie schloss ihren Spind auf, zog ein paar Bücher heraus und schloss ihn dann wieder. Das Mädchen stand immer noch vor ihr und Linda fragte sich bereits, was sie eigentlich von ihr wollte. Niemand redete mit ihr. Das war schon immer so gewesen. Keiner wollte mit ihr reden und jeder, der es doch tat, wurde als Außenseiter abgestempelt und gehänselt. Und wieso sollte sich jemand mit ihr unterhalten wollen? Sie sah ihnen ja grundsätzlich nicht in die Augen.
Doch dann erinnerte Linda sich daran, was ihr noch vor einer Stunde durch den Kopf gegangen war.
Langsam hob sie den Kopf und blickte dem Mädchen in die Augen. Sie waren dunkel - wie fast alles an ihr - und sehr groß.
Natürlich hatte Linda sich für irgendeine Art Veränderung ihrer derzeitigen Gefühle gewappnet, aber dennoch überkam sie ein freudiges Gefühl und helle Gedanken durchströmten ihren Geist.
"Sie sieht ein bisschen zerrupft aus. Kämmt sie sich in der Früh? Aber sie hat schöne Augen. Mit ein bisschen Wimperntusche und Maskara könnte man da noch viel mehr draus machen. Sie ist so blass. Vielleicht noch ein bisschen Rouge, dann kommt da mehr Pepp rein."
Linda musste sich ein Lachen verkneifen, als sie die Gedanken des Mädchens in ihrem Kopf hörte. Sie hörte sich an, als wäre Linda eine Versuchspuppe, an der man verschiedene Schminktechniken ausprobieren könnte.
Aber kein einziger feindseliger Gedanke.
Für gewöhnlich hätte Linda nun den Blick abgewandt, aber sie starrte dem Mädchen in die dunklen Augen und versuchte, auf irgendeine Art, die Gedankenflut einzudämmen und die Freude des Mädchens beiseite zu drängen. Ihre Brauen zogen sich zusammen, so sehr kämpfte sie dagegen an, doch es half nichts.
"Warum starrt sie mich so an? Oh mein Gott! Habe ich etwas im Gesicht? Hilfe! Wenn Justin mich so gesehen hat, bin ich erledigt! Ich muss ganz schnell aufs Mädchenklo!"
Linda blinzelte verwirrt und Panik krallte sich in ihrem Magen fest.
Das Mädchen lächelte rasch und winkte ihr zu. "Sorry. Ich muss leider wohin."
"Ja, schon gut", erwiderte Linda traurig und senkte den Blick, während das Mädchen an ihr vorbeirauschte. Es hatte doch nichts geholfen. Natürlich hatte sie es schon ein paar Male probiert, aber auch da war nichts Spektakuläres passiert. Weshalb hatte sie gedacht, würde es diesmal anders sein?
Sie seufzte, stellte die Bücher zurück in den Spind und verstaute den Schlüssel dann wieder in ihrer Tasche. Würde das mit der Brille dann auch nicht klappen? Linda hatte sich nie über Dinge, die ihre Fähigkeit betrafen, schlau gemacht. Sie hatte Angst davor gehabt. Sie hatte auch nie ihren Eltern etwas davon erzählt. Besonders nicht ihrer Mutter...
Mit gesenktem Kopf zwängte sie sich durch die Schülerschar in Richtung Bibliothek, wo es einigermaßen ruhig zuging. Sie steuerte in Richtung der Englischen Literatur und durchstöberte die Regale. Auch nichts neues. Aber sie fand ein Buch von Stephen King, das sich sehr interessant anhörte. Sie setzte sich in einen der roten Sessel und begann zu lesen.
Linda liebte Bücher.
In ihnen konnte sie sich vor der Realität verstecken. Das mochte für die meisten Menschen zwar nicht gerade positiv sein, aber für sie schon. Sie musste dann nicht an ihre Zukunft denken, an ihr Zuhause, ihr Leben.
Während sie las, lächelte sie ein wenig und vergaß beinahe die Zeit, als der Schulgong laut ertönte. Sie zuckte zusammen und stieß ein Seufzen aus.
Der Vormittag dauerte noch drei Schulstunden, dann war sie erlöst. Manchmal, wenn es schönes Wetter war, setzte sie sich nach draußen auf den Pausenhof und hörte Musik, aber heute war es kalt und windig.
"Hey! Du bist doch das Mädchen von vorhin, stimmt's?"
Linda drehte sich überrascht um und erkannte das Mädchen von heute Morgen, das ihr den Schlüssel aufgehoben hatte. Sie stand mit ein paar anderen Mädchen zusammen, die sich unterhielten. Bei dem Ausruf des Mädchens wandten sich alle Köpfe in Lindas Richtung, die den Blick senkte. Sie mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen.
"Ja."
Geklacker ertönte, als das Mädchen auf sie zukam.
"Kann es sein, dass wir zusammen Bio haben?", fragte sie und blieb einen Schritt vor Linda stehen. Diese dachte nach und lächelte dann.
"Kann schon sein, ja."
Keine Antwort.
"Eh...deine Freundinnen warten. Ich geh besser", fing Linda an, doch plötzlich wurde sie am Oberarm gepackt und vollkommen überrumpelt erkannte sie, dass das Mädchen sich bei ihr untergehagt hatte. Linda schaute sie mit großen Augen an.
"Du bist immer so allein. Komm doch mit uns. Die anderen haben sicher nichts dagegen. Ach, übrigens. Ich heiße Annita. Und du?"
"Eh...", begann Linda sehr geistreich. "Linda."
"Schöner Name!", rief Annita aus und zog sie mit sich zu den anderen Mädchen hinüber, die die beiden schon neugierig beobachteten. Es waren ausschließlich Schönheiten. Solche, die man auf irgendwelchen Covers von Frauenmagazinen sah. Sofort beschlich Linda ein ungutes Gefühl und am liebsten hätte sie sich von Annita losgerissen und wäre in die andere Richtung gestürmt. Nur weg von hier.
Aber sie wagte es nicht. Was würden die anderen von ihr denken? Würde Annita jemals wieder mit ihr reden? Vermutlich nicht. Unbemerkt atmete sie tief durch und hob ein wenig den Blick.
"Leute, das ist Linda."
"Hey!", rief eine aus und griff sofort nach Lindas Hand. Gänzlich überrumpelt starrte sie dem Mädchen in die runden großen Augen.
"Wieso gibt Annita sich mit so einer ab? Sind wir ihr nicht mehr gut genug? So eine dumme Kuh. Ich mochte sie ja noch nie." Verärgerung breitete sich in Linda aus. Verwirrtheit krallte sich in ihren Gedanken fest.
Sie sog die Luft ein und blinzelte. Das verärgerte Gefühl verflog augenblicklich.
"Hi."
Die anderen sagten kein Wort und fingen an, sich mit Annita zu unterhalten, als hätte nichts sie gestört. Doch Linda warf einen raschen Blick auf das Mädchen, das sie mit Händedruck begrüßt hatte. Es hatte blond gefärbte, lange Haare, war stark geschminkt und trug einen Rock, der kürzer als kurz war. Eine rote Handtasche baumelte an ihrem rechten Arm. Sie lächelte Annita zuckersüß an, doch hinter ihren Augen erkannte Linda die Feindseligkeit und Bosheit, die den anderen verborgen blieb.
Linda mochte sie nicht.
Überhaupt nicht.
"Hey, sollen wir uns in die Aula setzen?", fragte Annita plötzlich und wandte sich zu den anderen um. "Linda, was meinst du?"
Diese hob den Kopf und sah sich um. "Ich weiß nicht. Wenn ihr wollt..."
"Klar wollen wir", lachte die Falsche auf und hakte sich bei Linda unter. Linda wagte es nicht, sie direkt anzusehen. Ihr graute vor den Gedanken des Mädchens.
"Gut." Gemeinsam ging die Gruppe in Richtung Aula. An ein paar grauen Tischen saßen bereits einige Schüler aus derselben Jahrgangsstufe. Ein paar sahen die Mädchen erstaunt an, beachteten sie aber nicht weiter. Annita vorne weg setzte sich nahe den anderen auf einen Stuhl und zog eine Papiertüte hervor.
Ein bisschen unsicher ließ Linda sich neben ihr nieder und beobachtete die anderen. Keine von ihnen richtete das Wort an sie, nur manchmal fragte entweder Annita oder die Falsche - von der sie immer noch nicht den Namen wusste - sie nach ihrer Meinung. Dann gab sie eine knappe, ausweichende Antwort.
Als es dann zur Mittagspause läutete, erhob Linda sich kurzerhand und sagte etwas wie: "Ich muss noch was in der Biblo besorgen." und wollte schon abhauen, als Annita ihr folgte.
"Warum bist du so still?", fragte diese und ging zusammen mit Linda die Treppe hinauf.
"Was meinst du?"
"Du hast kaum was gesagt. Trau dich mal ein bisschen mehr. Die anderen reißen dir nicht den Kopf ab, wenn du mal was sagst."
Linda antwortete nicht.
Unwillkürlich hatte sie an das Mädchen denken müssen, das anscheinend einen Groll gegen Annita hegte.
"Wie heißt eigentlich das Mädchen, das mir vorhin die Hand gegeben hat?", platzte es urplötzlich aus ihr heraus.
"Michelle? Was ist mit ihr?" Annita sah sie neugierig an. Das konnte Linda spüren.
"Ach, gar nichts." Sie ging den Gang entlang und hörte nicht zu, während Annita ihr irgendetwas über Michelle und ihre anderen Freundinnen erzählte. Immer wieder rief Linda sich die boshaften Gedanken und Gefühle in den Sinn. Und sie mochte diese Michelle immer weniger, je länger sie darüber nachdachte.