Oscar
Das Fernsehteam war eine ziemlich lästige Angelegenheit.
Zumindest blieben diese Störenfriede nicht allzu lange, sodass ich bald wieder in Ruhe meine Runden durch die Flure drehen konnte.
Aber in der kurzen Zeit, in der sie hier alles aus dem Rhythmus brachten, waren sie wirklich nervtötend.
Der Kameramann lief die ganze Zeit hinter mir her – schlimmer als eine Blechdose am Schwanz war das – und der Regisseur sprach so laut und schrill, dass mir noch Stunden danach die Ohren davon klingelten.
Ein Wunder, dass er mir nicht auch so sinnlose Fragen gestellt hat wie Irma, der Nachtschwester.
„Denken Sie, er hat übersinnliche Fähigkeiten?“ – Aber sicher.
„Gab es schon mal jemanden, der ihn fort gejagt hat?“ – Das wäre ja noch schöner.
„Hat er sich jemals geirrt?“ – Allein schon die Frage war unerhört!
Und die ganze Zeit über wichen er und Irma und der hirnlose Kameramann nicht von meiner Seite.
Als ich aufs Klo ging, hätte ich sie am liebsten gefragt, ob sie dort auch mit hinkommen wollten. Erstaunlich wie ein stinkendes Klo auf einmal zu einem Ort der Ruhe und Meditation werden kann. Zumindest für kurze Zeit, denn schon schob sich die Linse der riesigen Kamera herein.
Verärgert machte ich mich davon und lief in Edna Fausts Zimmer. Edna schlief tief und fest, als ich unter ihr Bett kroch.
Und Irma wäre nicht Irma gewesen, wenn sie dem Fernsehteam nicht ziemlich nachdrücklich klar gemacht hätte, dass es sicher vieles machen durfte, aber den dringend notwendigen Schlaf der alten Menschen stören gehörte jedenfalls nicht dazu.
Glück für mich.
Als mich eine Weile später der Hunger überkam, lief ich zur Tür und streckte vorsichtig die Nase auf den Flur hinaus.
Irma sah mich als erstes.
„Na komm her, Oscar“, sagte sie, „Sie sind fort. Kannst Dich wieder raus trauen.“
Ich trabte hinter ihr her in die Teeküche.
„Bist auch nicht so begeistert von dem ganzen Medienrummel, was Oscar?“ fragte sie, während sie mein Abendessen fertig machte. Hühnchen mit Gemüse. Mein Lieblingsessen.
„Ich bin auch froh, dass sie wieder weg sind. Diese Unruhe bekommt den Patienten gar nicht.“
Sie stellte mein Essen hin, und ich machte mich mit Heißhunger darüber her.
Sie strich mir über den Nacken und lächelte, „Naja, das passiert eben, wenn man einen Star in seiner Mitte hat.“
Ein Star. Pfff.
Als ob mich etwas so Weltliches interessieren würde. Etwas so Menschliches.
Ich war fast fertig mit essen, als ich es plötzlich roch und fühlte, zugleich.
Eine sanfte Note, ein hauchdünner Geruchsfaden, der sich in meine Nase kräuselte, und gleichzeitig fuhr mir ein beinah hörbares Knistern durch Fell und Pfoten, dass mir nur so die Haare zu Berge standen.
Es war wieder soweit. Sie waren unterwegs. Zeit, meine Arbeit zu tun.
Ich kehrte dem restlichen Huhn den Rücken und lief zielstrebig auf die 39 zu. Tessa Rosenbaum. 89 Jahre und schon seit fast zwei Jahren in dem Bett, das nun mein Ziel war.
Ich muss ehrlich gestehen, der Duft ist immer schon das Beste an meinem Job gewesen. Es riecht phantastisch, wenn sie gehen. Wie eine Mischung aus frischem Schnee, einem Tau bedeckten Frühlingsmorgen, einer süßen, kleinen Katzendame mit pudrig-weißem Fell, in die ich einst unsterblich verliebt gewesen bin, und natürlich Katzenminze, dem herrlichsten Kraut der Welt.
Jedes Mal, wenn sich dieser Duft in meine Nase schleicht, bekomme ich eine angenehme Gänsehaut und meine Pfoten tragen mich beinah wie von selbst zur Quelle des Wohlgeruchs.
Kann ich vielleicht etwas dafür, dass so ein köstlicher Geruch von sterbenden Menschen ausgeht?
Ein Begleiter hat mir einmal erzählt, es sei der Geruch der Seele, die sich von der alten, schweren Körperhülle löst, und angeblich riecht es für jeden anders. Zumindest für jeden, der es riechen kann.
Damit kann er jedenfalls nicht die Menschen mit ihrem geruchsunempfindlichen Riechorgan gemeint haben.
Als ich in ihr Zimmer kam und mit einem gezieltem Sprung neben ihr auf dem Bett landete, öffnete Tessa kurz die Augen, lächelte und sagte: „Das wurde aber auch wirklich Zeit, mein lieber Oscar, dass du auch mich besuchen kommst. Ich dachte schon, du kämst überhaupt nicht mehr.“
Dann hob sie kurz die zittrige Hand, um mich hinter den Ohren zu kraulen.
Schnurrend rollte ich mich neben ihr ein und genoss den Duft, der sich in Schwaden über mich ergoss.
Irma kam vorbei. Ihre Augen wanderten von Tessa zu mir und wieder zurück und wurden dann sehr groß und rund.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und hastete aus dem Zimmer. Ich hörte, wie sie den Flur entlang ins Schwesternzimmer lief und dort nach Dr. Schönbeck telefonierte, dem zuständigen Stationsarzt.
Sie verstanden einfach nicht, dass es hier nichts mehr zu tun gab. Tessa Rosenbaums Stunden waren gezählt, und so, wie sie roch, war sie darüber alles andere als unglücklich.
Alles, was ich jetzt noch zu tun hatte, war, auf sie zu warten. Und natürlich aufzupassen, dass sich nicht jemand von der anderen Seite heranschlich, um Tessas Seele für sich zu beanspruchen. Aber darüber machte ich mir wenig Sorgen. Die Jungs von der anderen Seite mochten nicht nur keine Katzen, sie hatten regelrechte Panik, wenn sie einen von uns sahen. Gelegentlich machte ich mir den Spaß, einen zu erschrecken, der wie ein Schatten um die Ecke geschlichen kam um zu schauen, ob es nicht etwas Aas für ihn zu holen gab. Ich musste dann nur gefährlich mit den Augen funkeln oder die Haare an meinem buschigen Schwanz aufstellen, einen Buckel machen oder ein bisschen fauchen und schon waren sie wieder verschwunden. Herrje, ich kann sie wirklich nicht ausstehen. Besonders nicht ihren widerlichen Gestank …
Jetzt war allerdings weit und breit keiner zu sehen, und so konnten Tessa und ich friedlich zusammen warten.
Ich putzte schnurrend meinen Schwanz, und als ich wieder aufschaute, saß auch schon ein Begleiter auf Tessas Bettkante. Ich muss zugeben, dass ich mich doch manchmal erschrecke, wenn sie so völlig lautlos erschienen. Und wenn ich mit meinen großartigen Ohren schon von lautlos spreche, dann will das wirklich etwas heißen.
Wie jedes Mal war ich auch diesmal wieder verblüfft darüber, wie schön sie doch sind – trotz ihres deutlichen Mangels an Fell und Schnurhaaren.
Sie sind weiß wie Schnee, aber von einer schillernden, vielfarbigen Aura umgeben. Meine Pupillen verengten sich sofort, um dem strahlenden Leuchten standzuhalten.
„Das hat aber heute wieder mal gedauert“, sagte ich ruppig und leckte mir betont lässig den letzten Rest Staub aus dem Fell. Schließlich war ich jetzt ein Fernsehstar! Wer hatte bei all dem Starrummel noch Zeit für Totenwachen?
„Tut mir sehr leid, Oscar“, sagte der Begleiter, ohne dass erkennbar war, woher die Worte gekommen waren. Für mich fühlte es sich jedes Mal so an, als würden sie sich einfach so in meinem Kopf materialisieren.
Das kitzelte immer ein wenig, und schon fing mein rechtes Ohr an, nervös zu zucken.
„Wie ich sehe, hast du gut auf sie aufgepasst“, sagte der Begleiter und zeigte in Richtung der ganz ruhig daliegenden Tessa.
„Wie immer“, sagte ich würdevoll. Es mag ja Katzen gegeben haben, die schon jemanden an die Jungs von der anderen Seite verloren hatten, aber ich gehörte ganz sicher nicht dazu.
Der Begleiter lächelte und streckte seinen Finger aus. Sofort streichelte ein warmer, angenehmer Windhauch durch mein Fell. Ich schnurrte noch lauter.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Tessa ihre Augen geöffnet hatte. Sie schaute den Begleiter an und ein Lächeln, wie ich es in den ganzen zwei Jahren nicht ein einziges Mal bei ihr gesehen hatte, überzog ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie wie das junge Mädchen aus, das sie einst gewesen war.
„Mein lieber Oscar“, sagte sie. Dann schloss sie die Augen und sagte nichts mehr.
Der wunderbare Geruch, den sie immer noch verströmte, verstärkte sich um ein Vielfaches. Ich war wie im Rausch und warf mich genüsslich auf den Rücken, während ich zusah, wie ein duftender Nebel aus Tessas Körper emporstieg. Jetzt fühlte ich es auch wieder. Es war wie ein statisches Feuerwerk unter meinen empfindlichen Pfoten und in jeder einzelnen Haarspitze von der Schnauze bis zur Schwanzspitze. Für einen Augenblick muss ich ausgesehen haben, als hätte mich jemand kräftig an einem alten Büroteppich gerieben. Ein sehr alberner Anblick, zugegeben. Der Begleiter und der Dunstschleier, der nun aussah, wie eine sehr junge Version der Tessa, die ich gekannt hatte, lächelten sanft.
Dann nahm der Begleiter Tessa bei der Hand.
„Bis bald, Oscar“, sagte er und war so plötzlich verschwunden wie er gekommen war.
Wie immer fragte ich mich flüchtig, wohin er Tessa wohl brachte, aber der Gedanke verging so rasch wie er gekommen war.
Es gab Wichtigeres im Leben als darüber zu brüten, was passierte, wenn es erst vorbei war. Zum Beispiel der Rest Huhn mit Gemüse in der Teeküche. Wächter zu sein, machte mich immer ziemlich hungrig, und außerdem brauchte ich etwas Angenehmes, um mich von dem schmerzlichen Verlust des wundervollen Duftes abzulenken. Er war so unvermittelt verschwunden wie die Seele, die ihn zuvor verströmt hatte.
Ich sprang genau in dem Augenblick vom Bett, als Irma mit Dr. Schönbeck hereingeplatzt kam. Natürlich hätte ich ihnen sagen können, dass es für sie nichts mehr zu tun gab, aber sie hätten es doch nicht verstanden.
Auf meinem Weg zur Tür strich ich kurz an Irmas Beinen entlang, dann lief ich frohen Herzens zur Teeküche.
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Summary
Kater Oscar hat die Fähigkeit zu erkennen, wann Menschen sterben. Er bewacht sie solange, bis sie von jemanden von der "richtigen" Seite abgeholt werden. Und er macht seine Arbeit sehr gut.
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