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Die letzten Stufen sprang er in einem Satz hoch. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zu der zweiten Wohnungstür. Über der Klingel klebte, auf einen Streifen gedruckt, der Name der Familie. Wolff.
Mit den Fingerknöcheln der rechten Hand er gegen den Klingelknopf. Ein digitaler Ton drang hinaus auf den Korridor. Die Türen in dem heruntergekommen Wohnblock waren aus dünnem Spanholz und ließen jedes Geräusch durch. So wie die Schritte, die sich der Tür näherten. Oder die Stimme des Mädchens – oder war sie schon eine Frau? – die rief, sie werde „gleich aufmachen“.
Die Tür öffnete sich und er blickte in ein Gesicht. Es blickte ihn auf merkwürdige Weise ausdruckslos an. Fast androgyn. Die roten Haare waren beidseitig zu Zöpfen geflochten.
Er schoss ohne zu zögern und der Schusslaut hallte durch die verlassenen Stockwerke. Einen Augenblick hielt sich das Mädchen noch auf den Beinen und presste die Hände gegen die Brust, bevor sie in die Knie ging und zur Seite fiel.
Einen Augenblick später schrie aus der Wohnung die Stimme eines erwachsenen Mannes „Marie!“, gefolgt von dem Geräusch rennender Schritte. Der Vater hatte also die Geräusche richtig interpretiert. Er rannte in den Flur, der sich hinter der Wohnungstür auftat und genau vor die Mündung der Waffe. Der erste Schuss wurde noch von den Schritten des Mannes aufgefangen, der zweite Schuss brachte ihn zu Fall. Er lag auf dem Boden.
Ein weiterer Mann – oder war er noch ein Junge? - war seinem Vater ebenfalls in den Flur gefolgt. Der Schuss traf ihn in den Kopf.
Der Vater lebte noch und versuchte sich an gegen die Wand zu stützen und aufzurichten. Aus dieser Entfernung brauchte man nicht mehr zu zielen und einen Treffer später lagen die drei Körper reglos hintereinander aufgereiht, wie Perlen.
Drei Körper. De Vater, die Tochter und ein Sohn. Doch laut den Unterlagen musste es zwei Söhne geben. Vorsichtig betrat er die Wohnung. Sie fügte sich in das Bild des Wohnblocks: Vier Zimmer, Küche, ein WC/Bad, schlichte Einrichtung und die Fenster boten in der Ferne den Ausblick auf die graue Baustelle der neuen Bahntrasse.
Als er in dem Kinderzimmer stand – den Betten nach hatten hier die Tochter und beide Söhne leben müssen – hörte er krampfhaft unterdrücktes Atmen, dass unter dem Bett vordrang. Mit einem Lächeln riss er die Matratze von dem Rost herunter und starrte auf den Jungen. Wie alt mochte er sein? Zehn? Allerhöchstens Zwölf. Das kindliche Gesicht wurde von wilden roten Haaren umrahmt. Die Augen zusammengepresst, starrte er dem Mörder seiner Familie entgegen. Vorsichtig nahm dieser die Maske aus rosefarbenen Bandage ab und starrte mit einem Lächeln in den Mundwinkeln zurück.
„Was sollen wir mit ihm anstellen, Frank?“ fragte die Stimme in seinen Gedanken.
Das Lächeln verschwand. In den Augen des Jungen hatte sich eine Träne gebildet und lief über dessen linke Wange herunter.
Er richtete die Waffe auf den Jungen. Und zwang sich in den Mundwinkeln zu lächeln.
Frank drückte den Abzug seines Revolvers.

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„Wie lange sind sie schon tot?“ fragte Oberkommissar Pfeffer seinen Kollegen, während sie die letzten Stufen hoch, bis zu der Wohnung, in der sich der Tatort befand, liefen.
„Es ist zu früh für eine genaue Angabe.“ wurde ihm mitgeteilt. „Aber nach einer Messung der Temperatur wurden sie vermutlich heute Morgen, zwischen neun und zehn Uhr erschossen.“
„Na toll.“ Pfeffer sah auf seine Armbanduhr. „Und jetzt haben wir 20:05 Uhr. Hat keiner der Nachbarn etwas gehört und die Polizei gerufen?“ Doch noch während Pfeffer dies fragte, kannte er die Antwort.
„Dieser Wohnblock ist verweist. Alle anderen Anwohner haben schon ihre Wohnungen verkauft oder wurden von den Vermietern gekündigt. Dies war buchstäblich die letzte Familie, die hier gewohnt hat. Wer hätte den Mord melden sollen?“
Die beiden Kriminalkommissare jetzt vor der Wohnung, deren Tür offen stand und hinter der sich mehrere am Boden liegende Körper zeigten.
„Den Mord vielleicht nicht“, ging Pfeffer auf den letzten Satz ein „, aber was ist mit den Schüssen? Hat die auch niemand gehört? Passanten auf der Straße vielleicht?“
„Wer sollte sich um ein paar Schüsse kümmern, Pfeffer?“ erhielt er als Antwort. „Der Mann, dem die Wohnung gehört hat, war das letzte Hindernis, damit dieses ganze Gelände dem Erdboden gleich gemacht werden und hier die neue ICE-Trasse gebaut werden kann.“
„Dann wissen wir ja, wer hinter den Morden steckt.“
Doch dafür erntete Pfeffer nur ein Achselzucken.
„Die beiden haben ein Motiv!“ setzte er noch nach.
„Und doch wette ich mit dir, dass wir den beiden Brüdern am Ende nichts nachweisen können. Außerdem will die Regierung endlich diese ICE-Trasse gebaut sehen. Nun, da sich dieses letzte Problem gelöst hat, wird sich niemand mehr dem Bau in den Weg stellen.“
Pfeffer bedauerte es, aber er musste seinem Kollegen Recht geben. Ein paar Tage Ermittlung, dann würde der Tatort freigegeben für … was auch immer.
Er trat die letzten Schritte vor an de Leichen. Direkt zu seinen Füßen lag ein totes Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt. Und zu ihren Füßen lag, die Hände ihr noch entgegen gestreckt, ein erwachsener Mann. 'Ihr Vater' vermutete Pfeffer. Ihm folgte ein weiterer Jugendlicher, dieses Mal ein Junge. Alle lagen am Boden, alle in den Lachen ihres eigenen Blutes.
„Es gibt noch eine vierte Leiche.“ hörte Pfeffer seinen Kollegen neben sich, als habe dieser seine Gedanken gelesen. Gerne hätte sich Pfeffer die Toten genauer angesehen, doch er wusste, dass vorher Fotos gemacht, sowie forensische Beweise gesammelt werden mussten.
Und wieder schien der Kollege seine Gedanken zu erraten: „So wie die Wunden in den Leichen aussehen, wurden alle Opfer erschossen. Auch die vierte Leiche. Willst du sie sehen?“
Pfeffer nickte stumm und lies sich in die Wohnung führen. Am Rande seiner Aufmerksamkeit hörte er sich sagen: „Wir sollten zumindest so tun, als wären wir Kriminalbeamte und diese beiden Brüder befragen. Vielleicht ...“ Mehr fiel ihm nicht ein.
Seine Kollegen leider schon: „Du hast recht, wir sind Beamte, das heißt, wir sind Staatsdiener. Und die neue ICE-Trasse dient dem Staat.“
Die vierte Leiche – der Junge mochte höchstens zwölf Jahre alt sein – unterschied sich kaum von den übrigen. Nur hatte in diesem Fall die Kugel aus so kurzer Entfernung abgefeuert worden war, dass sie den Körper durchschlagen hatte, so dass der Junge nicht nur in einer Blutlache lag, sondern das Blut auch die obere Seite seines Hemdes durchtränkte.
Irgendwo in der Ferne schrie eine weibliche Stimme. Es kam aus dem Eingangsbereich. Als Pfeffer diesen erreichte, hielten die Polizeimeister eine junge Frau zurück. Sie schien nicht älter als 29 Jahre alt zu sein und trug ein lang geschnittenes Kleid. Ihr Gesicht erinnerte Pfeffer an die klassischen Filmstars der 60er Jahre.
Sie hielt sich die Hand vor ihr Gesicht.
„Wer ist das?“ rief Pfeffers Kollege.
„Sie wollte gerade hier reingehen.“ kam als Antwort von den Polizeimeistern zurück. „Sie hat es mit Gewalt versucht.“
„Wer sind sie?“ Pfeffer sah der jungen Frau in ihr Gesicht und bemühte sich seine Stimme freundlich zu halten. „Kannten Sie die Verstorbenen?“
Erst nach einigen Augenblicken lösten sich die Augen der Frau von den drei Leichen vor ihren Füßen. Pfeffer fiel auf, dass zwar ein Feuchtigkeitsfilm zwischen ihren Lidern schwamm, sie jedoch nicht weinte.
Genau so wenig gab sie ihm eine Antwort.
„Sind Sie eine Angehörige der Familie?“ fragt er.
„Wo ist der Junge? Er hatte noch einen zweiten Sohn!“
Pfeffer wusste nicht, was er der Frau antworten sollte und für einen Moment blickte er sie nur traurig an. Lange genug, dass die Frau die Antwort auf ihre Frage aus seinem Gesicht ablesen konnte. „Oh nein.“ stammte sie. „Bitte nicht.“
„Es tut mir leid.“ Mehr fiel dem Kommissar nicht ein. Doch, noch etwas: Die Polizeimeister wies Pfeffer an: „Lasst sie durch.“
Die Frau stolperte vorwärts, in die Pfeffers Arme. Noch immer waren ihre Wangen trocken.
„Bitte“, fragte er noch einmal. „, Wer sind Sie?“
„Ich?“ Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Ich bin seine Frau.“ Ihre Hand wies auf den Leichnam des erwachsenen Mannes.
Pfeffer Kehle schnürte sich zusammen. „Seine Frau. Wir … Wir wussten noch nichts von einer Frau.“ stammelte er dieses Mal.
„Ich komme gerade mit dem Zug aus Berlin. Wir haben dort vor einem Monat geheiratet. Wir wollten es vor allen geheim halten und erst heute bekannt geben.

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Auf der Polizeiwache:
Kommissar Pfeffer blickte auf das Protokoll, dessen Seite der alte Nadeldrucker gerade ausspuckte. Es enthielt die dürftigen Informationen, die man seit der Entdeckung des Tatorts bis zu diesem Zeitpunkt – gute vier Stunden später – gesammelt hatte.
Tief in seinem Inneren bezweifelte er, dass es noch viel mehr werden würden.
Obwohl, nach den neuesten Entwicklungen …
Er blickte durch das Einweg-Fenster in den Raum, in dem die junge Frau – Julia Wolff – saß und in die Luft starrte. Pfeffer hatte sich ihre Daten zufaxen lassen. Tatsächlich war sie seit 28 Tagen mit dem verstorbenen Ex-Eigner der Wohnung verheiratet. Und sie war in der Hauptstadt als Prostituierte registriert. Ohne Vorstrafen. Mehr gab es zu diesem Zeitpunkt nicht zu berichten. Über die Frau.
Über den Wohnblock, in dem die Morde stattgefunden hatten, gab es dagegen eine dicke Akte: Tatsächlich hatten nur noch der Witwer Wolff und seine drei Kinder der Aufgabe des Wohnblocks und somit der Bahntrasse, der er weichen sollte, im Weg gestanden. Und dies lag nicht daran, dass es das Land und der Bund nicht versucht hatten: Enteignungsprozesse waren durch alle Instanzen der Justiz geführt worden. Wolff hatte dabei alle Tricks genutzt, die einem alleinerziehenden Vater zur Verfügung standen. Nachdem er in der letzten Instanz gewonnen hatte, verschärfte sich die Lage: Von ihm lagen mehrere Anzeigen gegen Unbekannt wegen Nötigung und Sachbeschädigung vor.
Am Schluss hatte er den Kampf trotzdem verloren. Doch jetzt, mit einer neuen Wohnungseigentümerin …
Pfeffer nahm all seinen Mut zusammen und betrat das Zimmer, in dem die Frau saß und eine Zigarette rauchte. Er hätte sie darauf hinweisen können, dass dies verboten war – doch wie erklärte man einer Witwe nach diesen Erlebnissen, was Recht und Unrecht war?
„Wissen Sie, wo Sie heute Nacht übernachten können?“ fragte er sie.
Julia schüttelte den Kopf. „Nicht in der Wohnung meines verstorbenen Gatten?“
„Es tut mir leid, aber diese ist noch wegen der polizeilichen Ermittlungen gesperrt. Aber ...“ Noch ein Satz, den er nicht vollendete.
Sie nahm ihm die Bürde ab. „Aber was?“
„Sie können hier in eine unserer Zellen übernachten?“
„In einer Zelle?“
„Die Türe lassen wir natürlich offen. Die Betten sind bequem. Schon so mancher meiner Kollegen hat dort übernachtet.“
„Und wenn Sie einen Verbrecher festnehmen müssen?“
Pfeffer zuckte mit seinen Schultern. „Hier draußen lebt doch kaum noch wer. Wer sollte da eine Straftat begehen?“ Einen Augenblick später hätte er sich für diesen Satz die Zunge durchbeißen können.

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Frank wacht in seinem Bett auf, streckte die Arme und stand dann auf. Den Schmerz in seinem Gesicht ignorierte er noch. Stattdessen machte er ein paar Fitnessübungen auf dem Teppich, in der Mitte seines Zimmers. Er fühlte sich angespannt und hatte an dem gestrigen Abend noch lange wach auf der Matratze gelegen und die Decke angestarrt.
Als er in den Spiegel im Badezimmer sah, starrten ihn zwei mit dunklen Ringen untermalte Augen an. Dann aber wurde sein Blick von dem rot-violetten Punkt auf seiner linken Wange angezogen. Als die Finger prüfend danach tasteten, fühlten sie verhärtetes Gewebe, dass mit Schmerzen reagierte.
Gestern Abend hatte er es noch für eine Hautunreinheit gehalten. Und nun …
„Scheiße!“ Franks Schrei hallte durch die Wohnung. Aus einem der Nachbarzimmer drangen Geräusche. Das Quietschen eines Lattenrosts, ein paar Schritte, die auf den Flur traten.
Frank zwang sich, ruhig zu bleiben und verließ das Bad. Auf dem Flur sah er ein Mädchen, dass offenbar auf der Suche nach einer Toilette war. Er verschwendete kein Wort an sie, sondern stürmte zurück in sein Zimmer, zu seiner Hose, seinem Hemd und seinem Mantel, zog sich diese an, zögerte einen Moment, nahm dann den Revolver aus dem Schrank und verließ wieder das Zimmer. Erneut begegnete er dem Mädchen, dass dieses Mal im Begriff war, das Badezimmer zu verlassen.
„Du!“ fuhr er sie an.
Sie blickte zurück. In ihren Augen lag ein Schleier der Abgeklärtheit. Oder Desillusionierung? Ihr Körper mochte der einer Sechszehnjährigen sein, aber ihre Augen waren um Jahre älter.
„Was is'?“ fragte sie zurück.
„Du! Du sagst meinem Bruder, dass ich zum Arzt musste und heute Mittag zurück bin. Er wird es verstehen.“
„Ach ja?“ Sie blieb gelassen. „Weswegen musst du denn zum Arzt?“
Damit, dass seine Hand ihren Hals umschließen und zudrücken würde, schien sie nicht gerechnet zu haben. „Du berichtest meinem Bruder, wie ich es dir aufgetragen habe!“ Frank schluckte schwer. „Ansonsten komme ich zurück und zerschneide dir dein hübsches Gesicht.“ Er stieß es hervor und verließ die Wohnung.
Irgendwo auf der Strecke zwischen der Tür und dem Fahrstuhl trafen ihn die hinterhergeschrienen Verwünschungen, die sich gegen seine Sexualität richteten.

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Als Kommissar Pfeffer an dem nächsten Morgen den Aufenthaltsraum der Polizeiwache betrat, saß dort schon Julia Wolff und trank ihren Kaffee aus einer Tasse, die einst einem in die Großstadt versetzten Polizeikollegen gehört hatte. Sie waren alle in die Großstadt versetzt worden – nur wer sich an diesen Standort klammerte oder wessen Akte keine Versetzung zuließ, blieb an diesem Ort.
Die Frau sprach kein Wort und Pfeffer blieb an den Erinnerungen an seinen Ex-Kollegen hängen, während er nach seine eigenen Tasse auf dem Abtropfgitter neben dem Spülbecken griff und sich dann einen Kaffee aus der Maschine eingoss. Keine dieser modernen Maschinen, die mit Pads betrieben wurden. Filter, Kaffeepulver, Wasser. Nicht mehr. Und der Kaffee schmeckte seit einem Jahrzehnt gleich besch…eiden.
„Ich will zu der Wohnung.“ Wolffs Stimme traf ihn wie einen Dolch in den Rücken.
„Verstehen sie doch“, versuchte er zu erklären, „die Wohnung ist für die Polizeiarbeiten gesperrt.“
„Ach ja? Heißt dass, ihre Kollegen werden in der Wohnung noch Ermittlungen anstellen? Ermittlungen, die zu der Ergreifung der Mörder meines Mannes und meiner Stiefkinder führen?“
So weit vermochte der Kommissar nicht zu lügen. Die Augen zur Wand gerichtet, nickte und sagte er: „Ich hole nur schnell die Schlüssel und fahre sie dann dort hin.“
Als er den Aufenthaltsraum verließ, flüchtete Pfeffer zurück in die Erinnerung. Einst war hier alles anders gewesen. Doch nun schien die neue ICE-Trasse alles zu sein, worauf dieser Landkreis noch spekulierte. Ein Messias, der die Menschen zurückzubringen vermochte. Pfeffer schnappte sich seine Jacke, in deren Innentasche die Autoschlüssel klimperten.

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