Die letzten Stufen sprang er in einem Satz hoch. Von dort aus waren es nur noch ein paar Schritte bis zu der zweiten Wohnungstür. Über der Klingel klebte, auf einen Streifen gedruckt, der Name der Familie. Wolff.
Mit den Fingerknöcheln der rechten Hand er gegen den Klingelknopf. Ein digitaler Ton drang hinaus auf den Korridor. Die Türen in dem heruntergekommen Wohnblock waren aus dünnem Spanholz und ließen jedes Geräusch durch. So wie die Schritte, die sich der Tür näherten. Oder die Stimme des Mädchens – oder war sie schon eine Frau? – die rief, sie werde „gleich aufmachen“.
Die Tür öffnete sich und er blickte in ein Gesicht. Es blickte ihn auf merkwürdige Weise ausdruckslos an. Fast androgyn. Die roten Haare waren beidseitig zu Zöpfen geflochten.
Er schoss ohne zu zögern und der Schusslaut hallte durch die verlassenen Stockwerke. Einen Augenblick hielt sich das Mädchen noch auf den Beinen und presste die Hände gegen die Brust, bevor sie in die Knie ging und zur Seite fiel.
Einen Augenblick später schrie aus der Wohnung die Stimme eines erwachsenen Mannes „Marie!“, gefolgt von dem Geräusch rennender Schritte. Der Vater hatte also die Geräusche richtig interpretiert. Er rannte in den Flur, der sich hinter der Wohnungstür auftat und genau vor die Mündung der Waffe. Der erste Schuss wurde noch von den Schritten des Mannes aufgefangen, der zweite Schuss brachte ihn zu Fall. Er lag auf dem Boden.
Ein weiterer Mann – oder war er noch ein Junge? - war seinem Vater ebenfalls in den Flur gefolgt. Der Schuss traf ihn in den Kopf.
Der Vater lebte noch und versuchte sich an gegen die Wand zu stützen und aufzurichten. Aus dieser Entfernung brauchte man nicht mehr zu zielen und einen Treffer später lagen die drei Körper reglos hintereinander aufgereiht, wie Perlen.
Drei Körper. De Vater, die Tochter und ein Sohn. Doch laut den Unterlagen musste es zwei Söhne geben. Vorsichtig betrat er die Wohnung. Sie fügte sich in das Bild des Wohnblocks: Vier Zimmer, Küche, ein WC/Bad, schlichte Einrichtung und die Fenster boten in der Ferne den Ausblick auf die graue Baustelle der neuen Bahntrasse.
Als er in dem Kinderzimmer stand – den Betten nach hatten hier die Tochter und beide Söhne leben müssen – hörte er krampfhaft unterdrücktes Atmen, dass unter dem Bett vordrang. Mit einem Lächeln riss er die Matratze von dem Rost herunter und starrte auf den Jungen. Wie alt mochte er sein? Zehn? Allerhöchstens Zwölf. Das kindliche Gesicht wurde von wilden roten Haaren umrahmt. Die Augen zusammengepresst, starrte er dem Mörder seiner Familie entgegen. Vorsichtig nahm dieser die Maske aus rosefarbenen Bandage ab und starrte mit einem Lächeln in den Mundwinkeln zurück.
„Was sollen wir mit ihm anstellen, Frank?“ fragte die Stimme in seinen Gedanken.
Das Lächeln verschwand. In den Augen des Jungen hatte sich eine Träne gebildet und lief über dessen linke Wange herunter.
Er richtete die Waffe auf den Jungen. Und zwang sich in den Mundwinkeln zu lächeln.
Frank drückte den Abzug seines Revolvers.
„Wie lange sind sie schon tot?“ fragte Oberkommissar Pfeffer seinen Kollegen, während sie die letzten Stufen hoch, bis zu der Wohnung, in der sich der Tatort befand, liefen.
„Es ist zu früh für eine genaue Angabe.“ wurde ihm mitgeteilt. „Aber nach einer Messung der Temperatur wurden sie vermutlich heute Morgen, zwischen neun und zehn Uhr erschossen.“
„Na toll.“ Pfeffer sah auf seine Armbanduhr. „Und jetzt haben wir 20:05 Uhr. Hat keiner der Nachbarn etwas gehört und die Polizei gerufen?“ Doch noch während Pfeffer dies fragte, kannte er die Antwort.
„Dieser Wohnblock ist verweist. Alle anderen Anwohner haben schon ihre Wohnungen verkauft oder wurden von den Vermietern gekündigt. Dies war buchstäblich die letzte Familie, die hier gewohnt hat. Wer hätte den Mord melden sollen?“
Die beiden Kriminalkommissare jetzt vor der Wohnung, deren Tür offen stand und hinter der sich mehrere am Boden liegende Körper zeigten.
„Den Mord vielleicht nicht“, ging Pfeffer auf den letzten Satz ein „, aber was ist mit den Schüssen? Hat die auch niemand gehört? Passanten auf der Straße vielleicht?“
„Wer sollte sich um ein paar Schüsse kümmern, Pfeffer?“ erhielt er als Antwort. „Der Mann, dem die Wohnung gehört hat, war das letzte Hindernis, damit dieses ganze Gelände dem Erdboden gleich gemacht werden und hier die neue ICE-Trasse gebaut werden kann.“
„Dann wissen wir ja, wer hinter den Morden steckt.“
Doch dafür erntete Pfeffer nur ein Achselzucken.
„Die beiden haben ein Motiv!“ setzte er noch nach.
„Und doch wette ich mit dir, dass wir den beiden Brüdern am Ende nichts nachweisen können. Außerdem will die Regierung endlich diese ICE-Trasse gebaut sehen. Nun, da sich dieses letzte Problem gelöst hat, wird sich niemand mehr dem Bau in den Weg stellen.“
Pfeffer bedauerte es, aber er musste seinem Kollegen Recht geben. Ein paar Tage Ermittlung, dann würde der Tatort freigegeben für … was auch immer.
Er trat die letzten Schritte vor an de Leichen. Direkt zu seinen Füßen lag ein totes Mädchen, vielleicht sechzehn Jahre alt. Und zu ihren Füßen lag, die Hände ihr noch entgegen gestreckt, ein erwachsener Mann. 'Ihr Vater' vermutete Pfeffer. Ihm folgte ein weiterer Jugendlicher, dieses Mal ein Junge. Alle lagen am Boden, alle in den Lachen ihres eigenen Blutes.
„Es gibt noch eine vierte Leiche.“ hörte Pfeffer seinen Kollegen neben sich, als habe dieser seine Gedanken gelesen. Gerne hätte sich Pfeffer die Toten genauer angesehen, doch er wusste, dass vorher Fotos gemacht, sowie forensische Beweise gesammelt werden mussten.
Und wieder schien der Kollege seine Gedanken zu erraten: „So wie die Wunden in den Leichen aussehen, wurden alle Opfer erschossen. Auch die vierte Leiche. Willst du sie sehen?“
Pfeffer nickte stumm und lies sich in die Wohnung führen. Am Rande seiner Aufmerksamkeit hörte er sich sagen: „Wir sollten zumindest so tun, als wären wir Kriminalbeamte und diese beiden Brüder befragen. Vielleicht ...“ Mehr fiel ihm nicht ein.
Seine Kollegen leider schon: „Du hast recht, wir sind Beamte, das heißt, wir sind Staatsdiener. Und die neue ICE-Trasse dient dem Staat.“
Die vierte Leiche – der Junge mochte höchstens zwölf Jahre alt sein – unterschied sich kaum von den übrigen. Nur hatte in diesem Fall die Kugel aus so kurzer Entfernung abgefeuert worden war, dass sie den Körper durchschlagen hatte, so dass der Junge nicht nur in einer Blutlache lag, sondern das Blut auch die obere Seite seines Hemdes durchtränkte.
Irgendwo in der Ferne schrie eine weibliche Stimme. Es kam aus dem Eingangsbereich. Als Pfeffer diesen erreichte, hielten die Polizeimeister eine junge Frau zurück. Sie schien nicht älter als 29 Jahre alt zu sein und trug ein lang geschnittenes Kleid. Ihr Gesicht erinnerte Pfeffer an die klassischen Filmstars der 60er Jahre.
Sie hielt sich die Hand vor ihr Gesicht.
„Wer ist das?“ rief Pfeffers Kollege.
„Sie wollte gerade hier reingehen.“ kam als Antwort von den Polizeimeistern zurück. „Sie hat es mit Gewalt versucht.“
„Wer sind sie?“ Pfeffer sah der jungen Frau in ihr Gesicht und bemühte sich seine Stimme freundlich zu halten. „Kannten Sie die Verstorbenen?“
Erst nach einigen Augenblicken lösten sich die Augen der Frau von den drei Leichen vor ihren Füßen. Pfeffer fiel auf, dass zwar ein Feuchtigkeitsfilm zwischen ihren Lidern schwamm, sie jedoch nicht weinte.
Genau so wenig gab sie ihm eine Antwort.
„Sind Sie eine Angehörige der Familie?“ fragt er.
„Wo ist der Junge? Er hatte noch einen zweiten Sohn!“
Pfeffer wusste nicht, was er der Frau antworten sollte und für einen Moment blickte er sie nur traurig an. Lange genug, dass die Frau die Antwort auf ihre Frage aus seinem Gesicht ablesen konnte. „Oh nein.“ stammte sie. „Bitte nicht.“
„Es tut mir leid.“ Mehr fiel dem Kommissar nicht ein. Doch, noch etwas: Die Polizeimeister wies Pfeffer an: „Lasst sie durch.“
Die Frau stolperte vorwärts, in die Pfeffers Arme. Noch immer waren ihre Wangen trocken.
„Bitte“, fragte er noch einmal. „, Wer sind Sie?“
„Ich?“ Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Ich bin seine Frau.“ Ihre Hand wies auf den Leichnam des erwachsenen Mannes.
Pfeffer Kehle schnürte sich zusammen. „Seine Frau. Wir … Wir wussten noch nichts von einer Frau.“ stammelte er dieses Mal.
„Ich komme gerade mit dem Zug aus Berlin. Wir haben dort vor einem Monat geheiratet. Wir wollten es vor allen geheim halten und erst heute bekannt geben.
Auf der Polizeiwache:
Kommissar Pfeffer blickte auf das Protokoll, dessen Seite der alte Nadeldrucker gerade ausspuckte. Es enthielt die dürftigen Informationen, die man seit der Entdeckung des Tatorts bis zu diesem Zeitpunkt – gute vier Stunden später – gesammelt hatte.
Tief in seinem Inneren bezweifelte er, dass es noch viel mehr werden würden.
Obwohl, nach den neuesten Entwicklungen …
Er blickte durch das Einweg-Fenster in den Raum, in dem die junge Frau – Julia Wolff – saß und in die Luft starrte. Pfeffer hatte sich ihre Daten zufaxen lassen. Tatsächlich war sie seit 28 Tagen mit dem verstorbenen Ex-Eigner der Wohnung verheiratet. Und sie war in der Hauptstadt als Prostituierte registriert. Ohne Vorstrafen. Mehr gab es zu diesem Zeitpunkt nicht zu berichten. Über die Frau.
Über den Wohnblock, in dem die Morde stattgefunden hatten, gab es dagegen eine dicke Akte: Tatsächlich hatten nur noch der Witwer Wolff und seine drei Kinder der Aufgabe des Wohnblocks und somit der Bahntrasse, der er weichen sollte, im Weg gestanden. Und dies lag nicht daran, dass es das Land und der Bund nicht versucht hatten: Enteignungsprozesse waren durch alle Instanzen der Justiz geführt worden. Wolff hatte dabei alle Tricks genutzt, die einem alleinerziehenden Vater zur Verfügung standen. Nachdem er in der letzten Instanz gewonnen hatte, verschärfte sich die Lage: Von ihm lagen mehrere Anzeigen gegen Unbekannt wegen Nötigung und Sachbeschädigung vor.
Am Schluss hatte er den Kampf trotzdem verloren. Doch jetzt, mit einer neuen Wohnungseigentümerin …
Pfeffer nahm all seinen Mut zusammen und betrat das Zimmer, in dem die Frau saß und eine Zigarette rauchte. Er hätte sie darauf hinweisen können, dass dies verboten war – doch wie erklärte man einer Witwe nach diesen Erlebnissen, was Recht und Unrecht war?
„Wissen Sie, wo Sie heute Nacht übernachten können?“ fragte er sie.
Julia schüttelte den Kopf. „Nicht in der Wohnung meines verstorbenen Gatten?“
„Es tut mir leid, aber diese ist noch wegen der polizeilichen Ermittlungen gesperrt. Aber ...“ Noch ein Satz, den er nicht vollendete.
Sie nahm ihm die Bürde ab. „Aber was?“
„Sie können hier in eine unserer Zellen übernachten?“
„In einer Zelle?“
„Die Türe lassen wir natürlich offen. Die Betten sind bequem. Schon so mancher meiner Kollegen hat dort übernachtet.“
„Und wenn Sie einen Verbrecher festnehmen müssen?“
Pfeffer zuckte mit seinen Schultern. „Hier draußen lebt doch kaum noch wer. Wer sollte da eine Straftat begehen?“ Einen Augenblick später hätte er sich für diesen Satz die Zunge durchbeißen können.
Frank wacht in seinem Bett auf, streckte die Arme und stand dann auf. Den Schmerz in seinem Gesicht ignorierte er noch. Stattdessen machte er ein paar Fitnessübungen auf dem Teppich, in der Mitte seines Zimmers. Er fühlte sich angespannt und hatte an dem gestrigen Abend noch lange wach auf der Matratze gelegen und die Decke angestarrt.
Als er in den Spiegel im Badezimmer sah, starrten ihn zwei mit dunklen Ringen untermalte Augen an. Dann aber wurde sein Blick von dem rot-violetten Punkt auf seiner linken Wange angezogen. Als die Finger prüfend danach tasteten, fühlten sie verhärtetes Gewebe, dass mit Schmerzen reagierte.
Gestern Abend hatte er es noch für eine Hautunreinheit gehalten. Und nun …
„Scheiße!“ Franks Schrei hallte durch die Wohnung. Aus einem der Nachbarzimmer drangen Geräusche. Das Quietschen eines Lattenrosts, ein paar Schritte, die auf den Flur traten.
Frank zwang sich, ruhig zu bleiben und verließ das Bad. Auf dem Flur sah er ein Mädchen, dass offenbar auf der Suche nach einer Toilette war. Er verschwendete kein Wort an sie, sondern stürmte zurück in sein Zimmer, zu seiner Hose, seinem Hemd und seinem Mantel, zog sich diese an, zögerte einen Moment, nahm dann den Revolver aus dem Schrank und verließ wieder das Zimmer. Erneut begegnete er dem Mädchen, dass dieses Mal im Begriff war, das Badezimmer zu verlassen.
„Du!“ fuhr er sie an.
Sie blickte zurück. In ihren Augen lag ein Schleier der Abgeklärtheit. Oder Desillusionierung? Ihr Körper mochte der einer Sechszehnjährigen sein, aber ihre Augen waren um Jahre älter.
„Was is'?“ fragte sie zurück.
„Du! Du sagst meinem Bruder, dass ich zum Arzt musste und heute Mittag zurück bin. Er wird es verstehen.“
„Ach ja?“ Sie blieb gelassen. „Weswegen musst du denn zum Arzt?“
Damit, dass seine Hand ihren Hals umschließen und zudrücken würde, schien sie nicht gerechnet zu haben. „Du berichtest meinem Bruder, wie ich es dir aufgetragen habe!“ Frank schluckte schwer. „Ansonsten komme ich zurück und zerschneide dir dein hübsches Gesicht.“ Er stieß es hervor und verließ die Wohnung.
Irgendwo auf der Strecke zwischen der Tür und dem Fahrstuhl trafen ihn die hinterhergeschrienen Verwünschungen, die sich gegen seine Sexualität richteten.
Als Kommissar Pfeffer an dem nächsten Morgen den Aufenthaltsraum der Polizeiwache betrat, saß dort schon Julia Wolff und trank ihren Kaffee aus einer Tasse, die einst einem in die Großstadt versetzten Polizeikollegen gehört hatte. Sie waren alle in die Großstadt versetzt worden – nur wer sich an diesen Standort klammerte oder wessen Akte keine Versetzung zuließ, blieb an diesem Ort.
Die Frau sprach kein Wort und Pfeffer blieb an den Erinnerungen an seinen Ex-Kollegen hängen, während er nach seine eigenen Tasse auf dem Abtropfgitter neben dem Spülbecken griff und sich dann einen Kaffee aus der Maschine eingoss. Keine dieser modernen Maschinen, die mit Pads betrieben wurden. Filter, Kaffeepulver, Wasser. Nicht mehr. Und der Kaffee schmeckte seit einem Jahrzehnt gleich besch…eiden.
„Ich will zu der Wohnung.“ Wolffs Stimme traf ihn wie einen Dolch in den Rücken.
„Verstehen sie doch“, versuchte er zu erklären, „die Wohnung ist für die Polizeiarbeiten gesperrt.“
„Ach ja? Heißt dass, ihre Kollegen werden in der Wohnung noch Ermittlungen anstellen? Ermittlungen, die zu der Ergreifung der Mörder meines Mannes und meiner Stiefkinder führen?“
So weit vermochte der Kommissar nicht zu lügen. Die Augen zur Wand gerichtet, nickte und sagte er: „Ich hole nur schnell die Schlüssel und fahre sie dann dort hin.“
Als er den Aufenthaltsraum verließ, flüchtete Pfeffer zurück in die Erinnerung. Einst war hier alles anders gewesen. Doch nun schien die neue ICE-Trasse alles zu sein, worauf dieser Landkreis noch spekulierte. Ein Messias, der die Menschen zurückzubringen vermochte. Pfeffer schnappte sich seine Jacke, in deren Innentasche die Autoschlüssel klimperten.
„Bleiben Sie stehen …“ Pfeffer murmelte es mehr zu sich selbst, als zu der Witwe, die ein paar Schritte hinter ihm die Treppe hoch lief. Hatten seine Kollegen vergessen, die Wohnungstür hinter sich zu schließen, oder …?
Seine Hand griff nach dem Griff der Pistole und löste diese mit einem Klicken aus dem Halfter. Er sah, wie die Frau ihren Mund öffnete, jedoch wieder schloss, als Pfeffer seinen freien Zeigefinger erst über seine Lippen legte und dann mit ihm auf den Türspalt wies. Er schlich die letzten Meter zu der Tür, tippte diese dann ganz vorsichtig an – und erstarrte, als sie mit einem knarrenden Lauf aufschwang. Die Frau hinter ihm hielt hörbar die Luft an.
„Shit!“ zischend, betrat er den Flur. Die Blutflecken auf dem Boden hatten sich schwarz verfärbt, die Linien, die die Positionen der gefundenen Leichen markierten, kleben noch immer auf dem Linoleum. Durch die Fenster aus dem angrenzenden Wohnzimmer fiel etwas Licht auf die Wände.
Pfeffers Schuhsohlen ließen kein Schleichen zu, trotzdem bemühte er sich, keinen überflüssigen Laut von sich zu geben und lauschte angestrengt in die Stille. Doch außer dem Atmen der Frau hinter sich, drang kein Laut an seine Ohren. Sie war ihm gefolgt und stand nun ebenfalls in dem Flur. Mit einer wedelnden Handbewegung bemühte er ihr zu deuten, gefälligst aus der Wohnung zu verschwinden, bis er diese gesichert hatte. Doch Frau Wolff blieb.
Am Ende machte es sowieso keinen Unterschied – die Wohnung erwies sich als leer. Und in dem Chaos, dass die Ermittler hinterlassen hatten, ließ sich nicht einmal ausmachen, ob wer unerlaubt die Wohnung betreten hatte, oder nicht. Die Schlösser wiesen keine Zeichen von Gewalteinwirkung auf.
Pfeffer sah sich in dem Wohnzimmer um. Wolff war ihm weiter gefolgt und sah sich nun noch einmal an dem Ort um, an dem ihr Mann und ihre Steifkinder ermordet worden waren. Ihr Gesicht hatte die Farbe verloren und sie stützte sich mit der Hand auf der mit braunem Stoff überzogenen Armlehen einer im 70er-Jahrestil gehaltenen Couch ab.
„Soll ich Ihnen helfen?“ wollte Pfeffer noch fragen, aber da sackte die Frau schon auf die Sitzfläche, die bedrohlich ächzte.
„Shit …“ Mehr fiel dem Kommissar bei dem Anblick nicht ein.
„Ich muss mit dir sprechen.“ Ohne Anzuklopfen, oder irgendein anderes Warnsignal, betrat Frank das Schlafzimmer von Markus.
Sein Bruder lag in dem Bett, zusammen mit zwei jungen Frauen. Das Mädchen, das Frank früher am Tag gesehen hatte, fehlte, war also schon ausgewechselt worden. Alle drei trugen die Reste von Western- oder Cowgirl-Kostümen, deren ausgezogenen Teile sich über den Fußboden verteilten.
Markus machte nicht einmal Anstalten, das Bettlaken über seinen entblößten Körper zu werfen. Stattdessen griff er nach den Zigaretten auf dem Tischchen, das neben dem Bett stand, und steckte sich in aller Ruhe eine Kippe an. Erst dann sagte er: „Ich wollte auch schon mit dir sprechen. Und mich bedanken, für das, was du gestern getan hast.“ Als Frank schwieg, fuhr er fort: „Allerdings hatte ich dir gesagt, du solltest die Familie nur erschrecken.“
„In dem Moment, in dem ich den Vater und seine Kinder erschossen habe, machten sie auf mich einen ziemlich erschrockenen Eindruck.“ kam zurück. Frank nicht entgangen, dass sein Bruder die ganze Zeit vermied, ihm in sein Gesicht zu blicken. Oder auf das neue Pflaster.
„Aber wir haben jetzt leider ein neues Problem.“
„Ach ja? Welches?“
„Es ist eine Witwe aufgetaucht. Ihr gehört nun die Wohnung.“
Frank verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die durch das Ibuprofen schmerzte. „Na toll. Und was jetzt?“
„Du musst auch ihr Angst machen.“
„Das sagst du so einfach.“ Langsam ging Frank auf das Fußende des Bettes zu. Zigarettenqualm kam ihm entgegen. „Du liegst hier in deinem Bett mit irgendwelchen Minderjährigen und lässt mich die Drecksarbeit machen.“
„Und dafür bin ich dir auch dankbar.“ Markus blickte angestrengt auf die Wand zu seiner Rechten.
„Und was heißt Dankbarkeit für dich? Willst du mich am Ende in einer Pyramide begraben?“ An dieser Stelle bot Frank Markus kurz die Chance einer Rechtfertigung, die jedoch ausblieb. „Du weißt, weswegen ich das hier mache. Unsere Mutter wollte, dass es uns eines Tages besser geht. Für mich ist der Zug sprichwörtlich abgefahren. Aber du sollst von dem Geld ein besseres Leben führen. Deswegen habe ich diese Kinder getötet. Und nicht, weil du es mir gesagt hast. Oder wegen deiner Dankbarkeit.“ Das letzte Wort spuckte er aus.
„Und was willst du jetzt tun?“ fragte Markus trotzig. Seine freie Hand strich über den Bauch eines der Mädchen. An der Größe ihrer Pupillen erkannte man, dass sie Drogen konsumiert hatte.
„Sieh mir ins Gesicht!“ verlangte Frank. Es brauchte eine Weile, bis Markus Augen der Aufforderung nachkamen. Länger, als es die beiden Mädchen brauchten.
Erst dann nickte Frank und sagte:„Ich werde jetzt die Witwe erschrecken.“ Dann verließ er das Schlafzimmer seines Bruders.
„Und was jetzt?“ Kommissar Pfeffers Worte verhallten in den Wänden der Wohnung. Vorsichtig sah er sich um und nahm den gleichen schäbigen Eindruck auf, der ihm schon an dem Morgen nach den Morden aufgefallen war. Alte Möbel, vergilbte Wände, nichts, was einen Menschen veranlassen konnte, hier bleiben zu wollen. In gewisser Weise fühlte sich Pfeffer an sein eigenes 35-Quadratmeter-Apartment erinnert. Doch er lebte allein und fand in dieser Welt keinen Grund, zu renovieren. Irgendwann einmal hatte er mit einer Lebensabschnittsgefährtin zusammen gewohnt, in einer großen, hellen Wohnung, der man den Einfluss einer Frau ansah. Doch dann hatte er begonnen, seine Arbeit mit nach Hause zu bringen, jeden Tag ein bisschen mehr. Raubüberfälle, Sexualstraftaten, Misshandlungen, Morde – bis ihn die Frau mit den Worten „Du bist unfähig zu leben“ verlassen hatte. Wie war noch ihr Name gewesen? Pfeffer erinnerte sich nicht mehr an ihn. Oder wollte sich nicht mehr erinnern.
Er trat an das Fenster und blickte über die Landschaft. Ein paar Hochhäuser die sich gen Himmel streckten, ein paar Straßen, die sie verbanden,. Doch dazwischen holte sich die Natur Meter um Meter den ihr einst abgetrotzten Boden zurück. Und in der Ferne zeichnete sich die Riesenbaustelle der neuen ICE-Trasse ab. Pfeffer war versucht, bei ihrem Anblick auszuspucken, bis ihm einfiel, wo er sich befand.
Die Frau gab, außer Atemzügen, noch immer kein Lebenszeichen von sich. Der Kommissar sah zu seinem Waffenhalfter herunter und seine Finger strichen über das kalte Metall. Wieso es ihr unnötig schwer machen? Lieber ein schnelles und unerwartetes Ende, als dass diese beiden Brüder zurückkamen, über sie herfielen und …
„Nein!“ knurrte er. Was hatte dieses Leben aus ihm gemacht? Ohne zurück zu blicken verließ Pfeffer die Wohnung, warf die Tür hinter sich in das Schloss und rannte das Treppenhaus herunter, zu seinem Auto. Er wusste, was er zu tun hatte. Womit er viel zu lange gewartet hatte. Kommissar Pfeffer startet den Wagen und fuhr los. Den Ford Fiesta, der ihm auf halber Strecke entgegen kam, nahm er beiläufig wahr.
Das Ibuprofen verlor viel zu schnell seine Wirkung. Ein pulsierender Schmerz breitete sich von seinem Gesicht aus. Warm und wellenförmig. Welle um Welle.
Fast hätte Frank vergessen, den Hahn seines Revolvers zu spannen, als er die Wohnungstür mit einem Dietrich öffnete. Stille breitete sich vor ihm aus. Keine Schreie sterbender Menschen, wie bei seinem letzten Besuch. Auch von den Leichen, die er zurückgelassen hatte, fehlte jede Spur. Doch am Boden zeichneten sich noch immer schwarze Blutflecken ab.
Die ausgeschalteten Lichter deuteten darauf hin, dass die Wohnung verlassen war, doch als er den ersten Schritt in den Flur gesetzt hatte, glaubte er, ein leises Schnaufen zu hören. Frank verharrte in der Bewegung. Nur eine Einbildung? Oder doch die Witwe, die sein Bruder erwähnt hatte? Ja, da war es wieder, ein leises Atemgeräusch. Langsam schlich Frank weiter, auf das Flurende, und das dahinter liegende Wohnzimmer zu. An der Wandecke, die ihn vor Blicken aus dem Zimmer schützte, bleib er stehen und hielt die Luft an. Die Finger umklammerten den Griff des Revolvers. Das Schnaufen klang immer noch entfernt, und nicht, als ob es hinter der Ecke auf ihn wartete.
‚Am Ende spielt es für mich doch ehe keine Rolle mehr’ dachte Frank und betrat mit einem raschen Schritt das Wohnzimmer.
Kein Kugelhagel, der ihn empfing. Keine Waffenläufe, in die er blickte. Alles, was ihn erwartete, waren dieselben schäbigen Möbel, wie bei seinem letzten Besuch. Nur die Frau, die auf dem Sofa schlief, hatte das letzte Mal noch nicht dort gelegen.
Hübsch war sie auf jeden Fall. Was sie wohl an einem Ort wie diesen verloren hatte? Und wieso sie einen Mann mit drei Kindern geheiratet hatte? Frank zögerte noch, fragte sich, ob er sich wirklich auf dieses Niveau herablassen, oder nicht lieber umkehren, zu Markus gehen und diesem sagen sollte, er müsse sich von nun an um seine Probleme alleine kümmern, während Frank seine letzten Monate an einem Ort genoss, der nicht … so war, wie dieser Ort hier. Besser ließ es sich nicht beschreiben.
Doch Frank wusste, wie er sich entscheiden würde. Er war kein Mensch, der vor seinen Aufgaben davon lief. Diese Bahntrasse musste gebaut werden. Er richtete die Waffe auf den Kopf der schlafende Frau und rief: „Aufwachen!“
In Gedanken war Kommissar Pfeffer schon tausend Mal zu diesem Haus gefahren. Hatte sein Auto auf diesem Parkplatz geparkt, hatte zu der Etage hochgesehen, in der diese beiden Brüder lebten und dann …
Ja, was und dann? Daran scheiterten Pfeffers Gedanken immer.
Als er vor 20 Jahren bei der Polizei seine Laufbahn angetreten hatte, sah die Welt noch anders aus. Freier. Bunter. Dann fehlte es plötzlich überall an Geld. Arbeitsplätze verschwanden, Stellen im öffentlichen Dienst wurden gestrichen, seine Kollegen zogen von hier fort. Zwei hatten sogar Selbstmord begangen. Auch eine Option, die sie vor dem bewahrt hatte, was noch kam. Das Land verödete, wurde grau und die Gebäude verwaisten und verfielen.
Und dann waren da diese beiden Brüder gewesen. Sie waren nicht von hier, sondern von „dort drüben“, hatten Geld besessen, von dem jeder wusste, dass es nicht ehrlich erworben war, und hatten Land aufgekauft. Viel Land. Die Verkäufer hatte dies nicht gestört, solange sie ihr Geld bekamen, und auf Anfragen von Lokalpolitikern oder der neugierig gewordenen Presse hieß es, man wolle Arbeitsplätze schaffen. Zwar verstummte nicht das Gerücht, dass einige der Landbesitzer nicht freiwillig verkauft hatten, doch es kam nie zu einer Anzeige und niemand wollte vor der Polizei gegen die beiden Männer aussagen. Als eine junge Frau verschwand, die angeblich von „irgendetwas Illegalem“ Zeuge gewesen sein wollte, verlief die Ermittlung der Staatsanwaltschaft im Sande. Und dann tauchte plötzlich die Bahngesellschaft auf, deren neue ICE-Trasse sich durch das Land schneiden sollte. Die Lokalpolitik hatte gejubelt, von „tausenden Jobs“ gesprochen – und dass das meiste Land, auf dem die ICE-Trasse liegen würde, den beiden Brüdern gehörte, hatte niemanden mehr gestört.
Die letzten Landflächen, die das Bauprojekt verschlang, würden verkauft. Alle – bis auf ein Wohnblock, in dem sich ein Wohnungsbesitzer hartnäckig weigerte, auszuziehen. Der ganze Bau drohte zu platzen, einer Umverlegung der schon begonnenen Trasse, stand eine Hügelkette im Weg. Angeblich überlegte die Bahngesellschaft schon, eine völlig neue Strecke zu bauen.
Doch nun war der letzte Widerstand gegen das Bauprojekt tot. Seine Kinder ebenfalls. Nur die Witwe war geblieben.
Pfeffer sah zu der Hausetage, in der die Brüder lebten, hoch und stieg aus seinem Auto.
Die Witwe blieb im Angesicht der auf sie gerichteten Waffe ruhig. Doch es war nicht dieses lakonische Geste, die Frank an der Frau imponierte, sondern dass sie ihm in die Augen sah. Nicht am Gesicht vorbei, oder nicht auf die Narben und Pflaster, sondern direkt in die Augen. Die meisten Menschen ertrugen seinen Anblick nicht lange. Natürlich spähten sie immer wieder auf die Narben und Pflaster, doch sobald er zurück sah und sie sich ertappt fühlten, schauten sie woanders hin. Doch nicht bei dieser Frau.
„Du bist also der Mensch, der meinen Mann getötet hat.“ Ihre Stimme klang nicht wie eine Anklage, sondern wie eine Feststellung. Und passte zu dem Ausdruck ihrer Augen. Was war der richtige Begriff für diesen Ausdruck? Abgeklärt? Oder tot? Auf jeden Fall zeigten sie keine Angst. Vorsichtig ließ er sich auf einem dem Sofa gegenüber gestellten Sessel nieder, die Waffe weiterhin auf die Frau gerichtet.
„Ja.“ gestand er. „Das bin ich“
„Und wieso?“ Wieder schien dies keine Anklage zu sein, sondern nur eine Frage. Das Suchen nach Wissen.
„Geld. Es liegt immer am Geld.“
„Das ist alles? Das ist deine einzige Erklärung für den Mord an vier Menschen. An drei Kindern?“
„Es ist eine so gute Erklärung, wie jede andere für einen Mord.“, fand Frank. Die Frau antwortete ihm zunächst nicht, sondern blickte nur abwechseln auf die Waffe und in sein Gesicht. Schließlich meinte sie: „Mit deinem entstellten Gesicht siehst du wie der Schurke in einer Comicverfilmung aus.“
Frank stieß dafür ein trockenes Lachen aus. Das hatte ihm noch keine gesagt. „Okay …“ Er versuchte mit der Situation umzugehen. „Angesichts der Tatsache, dass ich deinen Mann und deine Steifkinder erschossen habe, wäre es wohl doppelmoralisch darauf hinzuweisen, wie politisch unkorrekt und diskriminierend diese Bemerkung war.“
Das Gesicht der Frau regte sich nicht.
„Ich habe mir diese Krankheit nicht ausgesucht.“, fuhr Frank fort. „Weißt du, vor einigen Jahren hatte ich etwas mit einer Frau. Na ja, sie hat sich wohl mehr davon erhofft, aber für mich war es nur Sex. Deswegen war ich auch nicht ganz ehrlich zu ihr, habe ihr unter anderem einen falschen Namen genannt. Und noch ein paar andere Sachen gemacht. Wenn Frauen merken, dass sie nur ausgenutzt wurden, dann beleidigen die meisten den Mann nur und verlassen ihn. Diese Frau hat mit einem Messer auf mich eingestochen.“
„In dein Gesicht?“
„Nein, in den Unterleib. Nachdem ich die Frau erwürgt hatte, musste ich danach mehrere Wochen im Krankenhaus liegen. Die Stichwunde selbst verheilte ohne Probleme. Leider habe ich mir in dem Krankenhaus eine Nosokomialinfektion geholt. MRSA. Ein multiresistentes Bakterium, das jeden Körperteil befallen kann und Hautentzündungen verursacht, die heraus geschnitten werden müssen, Und solange mein Immunsystem keine Antikörper gegen diese Bakterien entwickelt, darf ich alle paar Wochen zum Arzt gehen, und mir eine neue Entzündung heraus schneiden lassen.“
„Mir kommen die Tränen.“ Nun lag in der Stimme der Frau doch Verachtung.
„Schön, das zu hören.“
„Und warum bist du jetzt hier? Doch nicht, um über deine Krankengeschichte zu reden.“
„Ich soll dich davon überzeugen, dass es besser ist, diese Wohnung aufzugeben.“
„In dem du mich erschießt?“
„Ich habe nicht vor, dich zu erschießen.“ Obwohl Frank diesen Satz ehrlich meinte, unterstrich er eine Geste mit der Waffenhand machte. „Es ist schon genug Blut vergossen worden.“
„Und wie willst du mich dann davon überzeugen, dass ich hier weggehe? Indem du mich vergewaltigst?“
Dieses Mal war es der lakonische Tonfall der Frau, die Frank stumpf auflachen ließ. Er fragte sich, was ihn in der Vergangenheit passiert war, dass sie eine Sexualstraftat so beiläufig erwähnte. Er sagte: „Das würde ich gerne. Wirklich. Aber wie ich schon sagte: MRSA kann jeden Körperteil befallen und muss heraus geschnitten werden. In den letzten Jahren habe ich einige … Verluste erlitten.“
Jetzt starrte ihm die Frau zwischen die Beine. Er hatte auf ein Lachen ihrerseits gehofft, etwas, dass es ihm doch noch erlaubte, den Abzug zu drücken und endlich diese Wohnung verlassen zu dürfen. Doch sie lachte nicht. Sie kommentierte seinen Verlust nicht. Und sie blickte wieder auf und in sein Gesicht.
„Wenn du mir nichts antun willst, wieso sollte ich dann einem Mörder folge leisten?“
„Ich habe nie gesagt, dass ich dir nichts antun werde …“ Die ganze Zeit hatte neben dem Sessel ein Stuhl gestanden. Nun kippte er diesen, die Waffe weiter auf die Frau gerichtet, mit der Schuhspitze um und trat dann auf eines der querliegenden Stuhlbeine, dass splitternd abbrach. Vorsichtig kniete Frank sich hin und hob es auf. „Es gibt viele Möglichkeiten, einen Menschen davon zu überzeugen, das richtige zu tun.“ sagte er.