Prolog
Das Ende naht
Tief stand die Sonne am Horizont. Schickte ihre letzten Strahlen des Sommers über die weite Ebene. Ein kräftiger Wind kam auf, ließ das kniehohe Seegras sanft rascheln und zerrte an Martens blutroten Herrschermantel. Der Saum war längst beschmuzt. Das Rot an manchen Stellen vom Blut getränkt.
Sein Blick schweifte unentschlossen über die weite Ebene. Etliche Meilen in der Ferne war das vereinzelte Blitzen der Fenster von Hiraz zu erkennen. Wehmütig sah er zu den schwarzen Rauchsäulen hinüber, deren Ursprung in der Stadt lag. Sie türmten sich, strebten dem azurblauen Himmel entgegen.
Irgendwo in der Nähe kreischte eine Krähe auf. Aasgeier flogen unentwegt über seinen Kopf hinweg. Suchten nach unangetasteten Leichen und warten vielleicht noch auf sein baldiges Ableben.
"Nein", flüsterte Marten und berührte den Knauf seines Schwerts. Er würde nicht aufgeben. Nicht jetzt und auch nicht in dem Wissen, dass sein Volk dem Untergang geweiht war.
Wieder kamen ihm die verherrenden Wörter seines Berates in den Sinn.
"Herr, es wäre ratsam anzugreifen. Auf den Feldern der Helra, den goldenen Ebene des Siegs." Von wegen, dachte sich Marten und sah sich ein weiteres Mal um.
Leichen und nichts als Leichen lagen verstreut bis auf vielen Meilen über der Ebene. "Helra, das Gold ist gewichen", flüsterte er mit brüchiger Stimme. "Die Dunkelheit hat Einzug gehalten. Verdammt seihst du, Fatem!", schrie er in die Weite hinaus.
Lediglich das Krächzen der Geier und der Krähen kamen als Antwort zurück. Wie hatte er nur so dumm, so geblendet, sein können? Die Niederlage des Lichts war für jeden klar und deutlich gewesen. Nur für mich nicht, dachte er und verzog die Lippen zu einem dünnen Strich.
Wieder sah er direkt in das glühende, flüssige Gold der Sonne, die nur noch ein drittel ihrer vorherigen Größe war.
Zwielicht senkte sich über die Helra. Machte diesen Ort des Todes zu einem schaurig-schummrigen Ort.
Gerade, als er sich vom Schlachtfeld und der Ebene abwenden wollte. Gerade, als er sich für das Exil entschieden hatte, sah er einen huschenden Schatten aus dem Augenwinkel.
Die Dämmerung war nun soweit fortgeschritten, dass er nicht zu sagen vermochte, wie viele es waren. Ob es nur ein letzter Attentäter war. Geschickt vom Volk der Azu. Von seinem Feind.
Mit stählerner Ruh sah Marten zu, wie der Schatten durch das knielange Seegras huschte. Ein Blitzen im letzten Sonnenstrahl sagte ihm, dass der Schatten bewaffnet war. Ein Dolch oder ein Schwert.
Der Attentäter kam immer näher. Erst, als er nur noch fünf Schritt entfernt war, blieb er im hohen Gras sitzen.
Marten rückte währenddessen seinen blutgetränkten Mantel zurecht. Bereitete sich auf den Zweikampf vor und erkannte zu spät, dass der Schatten nun nicht mehr alleine war. Ein weiterer Fehler, den ich - in meinem Leichtsinn - begangen habe, kam es ihm in den Sinn. Trotzdem würde er an seinem Grundsatz festhalten und für sein Volk kämpfen.
Die Attentäter hatten ihn mittlerweile umzingelt. Zogen den Kreis - einer zischenden Giftschlange gleich - stetig enger.
Ein überraschender Schrei hinter Marten hallte jäh über die weite Ebene, als er sich abrupt umdrehte, erkannte er die funkelnde Rüstung eines Weißen Ritters.
Nun ja, zumindest was von ihm noch übrig war. Der Mann sah mehr als mittgenommen aus. Sein linker Arm war oberhalb der Schulter abgetrennt worden, hatte mehr als die Hälfte seiner glühend weißen Rüstung mit roter Farbe befleckt. Die entstellte rechte Gesichtshälfte war auch im Dämmerlicht gut zu erkennen. Muss wohl ohnmächtig geworden sein und ist dabei, mit dem Gesicht voran, in eines der unzähligen Feuer gestürzt.
Dennoch blieb der Weiße Recke standhaft. Schwang sein beschmuztes Schwert in weitem Bogen, während er von mindestens fünf Attentätern eingekreist wurde.
Marten wollte ihm gerade zu Hilfe eilen, als hinter ihm ein leises Zischen ertönte. Die Schlange schlug zu! In allerletzter Minute zog Marten sein Schwert und gleich darauf hallte das laute Scheppern über die Feldern von Helra, als seine Klinge auf die des Attentäters traf.
Ein Heulen signalisierte ihm, dass sich der Schatten vollkommen anders vorgestellt hatte. Flink tauchte er ins hohe Seegras ab und nur noch das Rascheln war zu hören. Suchend drehte sich Marten in alle Richtungen, als ein neuerliches Zischen in seinem Nacken ertönte.
Schreiend schwang er sein Schwert in einem weiten Halbbogen mit sich, als er sich seinem Angreifer zuwandte.
Ein klägliches Wimmern erklang, als sich Martens Klinge tief in den Brustkorb des Attentäters fraß. Dunkles Blut spritzte auf und besprizte Martens Gesicht. Angeekelt wischte er sich die Tropfen von der Wange und suchte ein neues Opfer.
Der Weiße Recke hinter ihm schlug sich tapfer. Hatte bereits zwei der fünf Schatten niedergestreckt, doch würde er nicht mehr lange durchhalten. Marten wusste das. Und er wusste auch, dass ihm die Götter genügend Zeit gegeben hatten, um zu verschwinden. Aber Flucht passte so gar nicht in seinen Plan. Natürlich hatte er vorgehabt Hiraz einstweilen hinter sich zu lassen und für ein, zwei Jahre ins Exil zu gehen, um die versprngten Streitkräfte erneut zusammen zu führen. Aber nun, da es soweit war und er die Gelegenheit nutzen musste, zögerte er.
Er wollte Rache. Sein Verstand wollte Rache. Und nicht nur an Fatem seinem schleimigen, aalglatten Berater, sondern auch an den Azu. Den Dienern der Dunkelheit. "Verdammt", zischte er und haderte mit seinen Gefühlen.
Ein letztes Mal sah er zu dem Weißen Ritter hinüber, aus dessen Armstumpf frisches Blut floss. Ihre Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde und in den schwarzen Augen des Recken spiegelte sich Entschlossenheit. Diese Entschlossenheit half Marten sich endgültig zu entscheiden.
Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen verschwand Marten im hohen Gras. Um ihn herum raschelte es, als er rennend in der Finsternis verschwand.
Er war nicht weit gekommen, als ein durchdringender, hoher Klageschrei an seine Ohren drang. Der Weiße Recke war gefallen. Und mit ihm mein sicherer Rückzug, dachte er sich.
Keuchend zwang er sich weiter und obwohl die schwere Rüstung, die er trug, ihn langsamer werden ließ, schaffte er es trotzdem unter die Ausläufer des Gläsernen Waldes. Dicht hinter ihm verfolgten ihn die Attentäter der Azu. Er konnte deutlich das Rascheln des Seegrases hören.
Stolpernd brach Marten durch das Unterholz des Waldes, verfing sich mehr als einmal mit seinem blutroten Mantel an Gestrüpp und Dornen. Stück für Stück drang er tiefer in den Wald ein, während ihm die Schatten dicht an den Fersen klebten.
"Verschwindet ihr Sklaven der Azu", rief er über die Schulter den zischenden Attentätern zu.
Plötzlich stolperte er über eine Wurzel, die er in der Dunkelheit nicht gesehen hatte. Rollend und scheppernd drehte er sich um sich selbst, fiel einen kurzen Abhang hinunter und blieb dann keuchend und stöhend liegen.
Er musste in eine Art Senke gefallen sein. Der Schmerz zuckte wild entschlossen durch seinen Körper, als er versuchte sich aufzurichten. Wollte er etwa, dass Marten liegen blieb und auf den Tod - in Gestalt der Schatten - wartete? "Nicht mit mir", murmelte er und büßte seine Entschlossenheit nicht ein. Hastig zog er einen der beiden Dolche, die er in den gegerbten Lederstiefeln versteckt hatte. Ungeschickt schnitt er die Riemen seiner Rüstung durch, pfefferte sie - so weit wie möglich - von sich und bekam endlich genügend Luft, um sich aufzurichten.
Irgendwo in der Nähe schrie eine Eule, ein Quicken folgte wenig später. Aber wurden die Geräusche des Gläsernen Waldes von den herannahenden Attentätern überlagert. Boshaft zischend standen sie oben, während Marten - vom Boden der Senke aus - zu ihnen hinauf sah. "Kommt schon!", schrie er ihnen entgegen. Er hatte genug Schmerz erlitten, um endlich einzusehen, dass sein Heil im Exil nicht kommen würde.
Doch blieben die Schatten unentschlossen in der Finsternis der Bäume stehen. Und erst da bemerkte Marten das schwache, pulsierende Licht. Es war vollkommen rein und weiß. Die Attentäter waren längst vergessen, als er sich zur Quelle des Lichts umdrehte. Als ihm gewahr wurde, was da vor ihm aus dem Boden ragte, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von tödlicher Entschlossenheit zu gaffendem Staunen.
Vor ihm ragte einer der legendären Malan-Bäume (Gott-Bäume) aus dem Blätter übersäten Boden. Der Stamm funkelte in dem pulsierenden Licht, das - so glaubte Marten zumindest - aus dem Innern des Baums kam. Wie kleine Diamanten, kam es ihm unwillkürlich in den Sinn.
Die Äste strebten - in stummem Einvernehmen - dem Himmel entgegen. Fasziniert betrachtete er die - aus purem Glas gewachsenen - Blätter. Auch sie schienen vom Licht des Baums erfüllt.
Langsam trat er näher und konnte es immer noch nicht recht begreifen. Er hatte Geschichten von den Malan-Bäumen gehört. Legenden und unglaubwürdige Gerüchte darüber vernommen. Aber nun vor einem wahrhaftig zu stehen, überstieg jegliche Vorstellungskraft.
Hoch über Marten, in den finstren Schatten der umstehenden Bäume, schrien die Attentäter. Klagten, heulten und wussten nicht so recht, was sie nun tun sollten. Sie scheuten das Licht. Das Weiße Licht, über das Marten herrschte.
Einem inneren Drang folgend kam er dem wunderschönen Bäum stetig näher. Dann - endlich - war er so nah, dass er seine Hand ausstreckte und sie gerade auf die diamantene Rinde legen wollte, als ein flüchtiges Surren die reine Stille vertrieb. Gleich darauf zischten die Attentäter triumphierend auf. Marten jedoch bekam von all dem nichts mehr mit. Er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass einer der schwarz gefiderten Bolzen tief in seinem Rücken steckte. Die Spitze hatte nur um haaresbreite sein Herz verfehlt. Aber der Schmerz war dennoch überaus präsent. Er zuckte über seine Schulter, über seine Schulter, seine Brust, hinunter bis zu seinen Beinen. Zitternd stand er da, während seine Rechte in der Luft verweilte und er den zähen, klebrigen Blutstrom spüren konnte, der seinen Rücken hinunter floss.
Rasselnd sog er die frische Nachtluft ein. Sein Blick blieb auf dem Stamm des Malan-Baums haften. Und dann... ohne Vorwarnung, knickten seine Knie ein. Er fiel vornüber. Durch die diamantene Rinde und hinein ins pulsierende, weiße Licht.