Die Zeit läuft schon wieder auf Mittag zu, als Gretel beginnt aufzuwachen und ihre Augen langsam öffnet. Sie hatte wieder eine unruhige Nacht hinter sich - und ihre Tablettenabhängigkeit war nicht die Ursache dafür. Vielmehr beschäftigen sie die vergangenen Ereignisse in der Hexenhütte und die zunehmend groben Annäherungsversuche ihres Bruders. Ein tiefer Seufzer dringt aus ihrer Kehle und sie versucht sich kraftlos aufzurichten. Gerade, als sich ihr Kreislauf stabilisiert, hört sie ein lautes Klopfen an der Eingangstür ihrer kleinen Einzimmerwohnung. Etwas ist passiert.
"Diese verdammten Mist-Drecks-Bullen....die riecht man schon 3 Meilen gegen den Wind, die verdammten Wichser....da will man mal seine Ruhe haben und zieht in das kleinste Kaff das man finden kann, da steigen sie einem schon wieder nach, nur weil sie unfähig sind...und weil diese miese Dauergrinsekatze Glück auf mich steht...." "Miau?" "Nein, nein, dich hab ich nicht gemeint, mein süßer Chester." Aus der Richtung des breiten Grinsens in der Luft vor Gretels Kissen tönte ein zufriedenes Schnurren. Sitzend griff Gretel nach dem Glas auf ihrem Nachtischchen. Leer. War ja klar gewesen. Gretel fiel nun auch wieder die Werbesendung ein, bei der sie gestern Nacht eingeschlafen war: "Halli Hallo, herzlich Willkommen zu Frau Holles Schatzbrunnen! Heute will ich Ihnen mal etwas ganz Feines zeigen: Dieses Tischlein deckt sich ganz von selbst! Ja, Sie haben richtig gehört! Nie wieder kochen, keine Scherereien mehr mit anbrennendem Brot! Liebe Goldmarie, würdest du uns bitte einmal vorzeigen, wie das funktioniert?...." Wäre doch tatsächlich einen Versuch wert, so ein Tischlein. Aber diese Teleshopping-Dinger funktionierten ja meistens nicht; wenn man erst einmal den unnützen Ramsch im Haus stehen hatte, taten sie, was sie wollten. Bei diesem Styling-Tipp-Spiegel war sie auch darauf hereingefallen. Plapperte die ganze Zeit nur Blödsinn. Eine zerzauste, nur mit einem leichten, roten Spitzennachthemdchen bekleidete Gretel starrte wütend auf ihr am Bett sitzendes Ebenbild. "Jaja, halt die Klappe, Spiegel. Ich weiß, dass ich auch heute nicht die Schönste im Land bin und einen Haarschnitt gebrauchen könnte, und ja, meine blonde Mähne zeigt auch schon einen hellbraunen Ansatz." Wenigstens funktionierte die Sprachbedienung noch.
Unsanft aus ihren Überlegungen wurde Gretel gerissen, als es wilder, fester, dröhnender als vorher nun von Neuem zu klopfen begann. "Ja, ja, komm ja schon, nur kein Stress...Und schlagt mir nicht dir Türe ein, ihr Grobiane!" Kurz spielte die junge Blondine mit dem Gedanken, leicht bekleidet wie sie war die Türe zu öffnen, um den sonst so redefreudigen Beamten zumindest die ersten paar Wörtchen zu verschlagen. Sie verwarf diesen Plan so schnell wie er gefasst worden war: "Fräulein Gretel, Fräulein Greeeeteeeel! Wir brauchen bitte dringend Ihre Hilfe, bitte!" Glück. Hans Glück, eindeutig. Diese hohe, unerträgliche Beinah-Kastratenstimme blieb in Erinnerung. Schnell warf Gretel sich den drachenbestickten Synthetikkimono über und eilte in Richtung Tür. "So öffnen Sie doch bitte Ihre Türe, bitte!" Die schwulen Zwerge hätten sich vielleicht über den Blondschopf gefreut. Gretels Mundwinkel zuckten leicht nach oben bei der Vorstellung, wie die Zwerge den schmächtigen Constable auf eine Streckbank schnallten. Wie tief ihr Humor doch gesunken war in den letzten Jahren...Doch das war im Moment nebensächlich. Gretel konzentrierte sich darauf, ein ernstes Gesicht zu machen und öffnete die Tür. Ersteres misslang ihr offensichtlich: Ihr Ausdruck, in Kombination mit den leichten Augenringen und der hellen Hautfarbe, die ihr schon immer eigen gewesen war, erweckte anscheinend den Eindruck von Übelkeit. "Geht es Ihnen gut, Fräulein Gretel?" Die erste Frage nach einer kurzen Schweigepause. Der ihr unbekannte Beamte neben Glück sah ihr besorgt ins Gesicht. Gretel schluckte den letzten Rest ihrer Belustigung gekonnt hinunter und antwortete mit einem strafenden Blick. Der Polizeichef nutzte den Augenblick der Stille um das Wort zu ergreifen: "Allerliebstes Fräulein Gretel, bitte, Sie sind ja heute wieder allerliebst, Fräulein, eine Augenweide!" "Die einzige Weide, die ich im Moment darstellen könnte, ist die blutige Trauerweide, die oben bei Sleepy Hollow steht, Herr Glück." Die unerwartete Antwort brachte ihn ein wenig aus dem Konzept. "Äh, nun ja, bitte, wie Sie meinen, bitte. Es ist nun aber so, wir hätten da ein dringliches Anliegen an Sie, bitte. Der alte Rumpelstilzchen, Grimm hab ihn selig, der wurde ganz blutig niedergestreckt, und nun, bitte, bräuchten wir jemanden Fähigen, der uns hierbei behilflich ist, bitte, das aufzulösen. Da musste ich natürlich sofort an Sie denken, Fräulein! Nun denn, kommen Sie mit uns nach Schwanensee, bitte?" "Habt ihr nicht diesen Schneider bei euch unten? Der hat bis jetzt ganz gute Dienste geleistet, wie ich höre...Und außerdem sind sowieso Sie dabei, Herr Glück, da kann ja gar nichts mehr schief gehen!" Der Beamte neben Glück musste schmunzeln. Mit halb geöffnetem Mund stand der Polizeichef da und wusste nicht so recht, was er darauf erwidern sollte. "Aber na gut. Ich muss so oder so mal wieder runter in die Stadt, ein paar Einkäufe erledigen und einmal zum Drosselbart die Haare machen lassen. Und vielleicht kann mir euer so genannter Schneider ja ein feines Kleid machen. Wann soll ich mich denn bereit machen?" "Bitte, jetzt bald, bitte, wir haben den Mercedes nur für eineinhalb Stunde gemietet, dann wird er wieder zum Kürbis, bitte. Bitte gleich, wenn geht." Ein Seufzer, Augenrollen. Der Tag hatte mit unguten Träumen schlecht angefangen und wurde immer schlimmer. "Geben Sie mir ein paar Minuten zum Packen, Constable...Ich beeile mich." Gretel schlug den Beamten die Tür vor der Nase zu. "Na toll, ungeduscht und unfrisiert kann ich da jetzt runter in die Stadt...die werden denken, ich bin verwildert hier oben in den Bergen." Trotz Unmuts packte Gretel flott ihre sieben Sachen und zog sich an. "Na Chester, du kommst klar?", fragte sie ihren Kater. Ein breites Grinsen gab ihr zu verstehen, dass er sehr wohl klar kam. Ein gutes Haustier und ein guter Freund. Sie striegelte noch einmal sein unsichtbares Fell und ihr Haar, dann schnappte sie sich den Koffer, und auf gings.
Als Gretel in den organge-goldfarbenen Wagen stieg, beschlich sie das ungute Gefühl, das dieser Tag heute noch viel schlimmer werden würde, als er begonnen hatte. Gretel winkte noch ihrem wandelnden Grinser, dann verschwand ihr kleines Heim zwischen den Bäumen.
Der Stau hatte Schwanensee fest im Griff: Alle Zufahrtsstraßen war dicht und die unmöglichsten Fahrzeuge drängten sich dicht aneinander, als Kommissar Glück seinem Fahrer Anweisung gab eine „Schleichroute“ über den Sieben-Raben-Ring zu nehmen.
„Sowas aber auch“, merkte Glück mit einem entschuldigenden Lächeln an, „Ich hätte nicht gedacht, daß uns das heute schon wieder passiert!“
Zu allem Unglück wurde die wasserstoffgetriebene Kürbiskutsche auch noch zwischen Frau Holles dampfender Waschschüssel auf sechs Rädern und einem hupenwütigen Frosch im silberfarbenen BMW eingeklemmt. Davon unbeeindruckt widmete sich der Kommissar ganz seiner attraktiven Begleiterin, die ihm zwar finstere Blick zuwart, aber nicht in sein euphoriedurchflutetes Hirn durchdrang.
„Ach, ist das nicht ein wunderbarer Tag heute!“, flötete er mit einem glückseligen Augenaufschlag, während in der Ferne dunkle Wolken aufziehen. Ein tiefes Donnergrollen rollte durch Schwanensee und wenig später begann es zu regnen. Dicke, kräftige Pechtropfen zerplatzten auf goldenem Kopfsteinpflaster und kristallenen Windschutzscheiben.
Bevor Gretel auf den unsäglichen Kommissar eingehen konnte, riß Frau Holle vor ihnen der Geduldsfaden: „Kaum ist frau mal eine Stunde nicht im Kontrollraum, bauen diese beiden Marien schon wieder Mist!“
Mit einem Ruck wendete sie ihre Waschschüssel und brauste im Wahnsinnstempo aus der Stadt. Der orange-goldene Polizeimercedes rückte einige Meter auf, den pausenlos hupenden Frosch noch immer im Nacken.
„Sagen sie, Fräulein Gretel. Was wissen sie eigentlich über das Rumpelstilzchen?“, fragte er mit seiner hohen Knabenstimme. „Bevor ich sie mit bekannten Details langweile, erzählen sie mir doch, was sie über ihn wissen.“
Gretel zuckte genervt mit den Schultern: „Der kleine Drecksack ist ein Zuhälter. Oder besser gesagt: war. Hat sich mit seinen kleinen Schnecken eine goldene Nase verdient und eine goldene Beinprothese von Karl Felderlag anfertigen lassen. Stand in allen Boulevardblättern. Seither, so heißt es, humpelt er nicht mehr und ist im Bett besser als die sieben Schwaben! Aber das singen ja die Bremer Stadtmusikanten von allen Dächern.“
„Hm, ja, das haben wir auch gehört. Aber danach kräht ja kein Hahn mehr. Laut Autopsiebericht hatte das Rumpelstilzchen nicht nur eine goldene Beinprothese“, erklärt Glück fröhlich und betrachtet Gretel augenzwinkernd. „Aber wie dem auch sei, von seinem mobilen Goldvorrat wurde nichts geklaut, da war noch alles dran.“
„Woran starb der alte Bock eigentlich?“
„Ha! Eine sehr gute Frage, Fräulein Gretel!“ Glück klatschte begeistert in die Hände. „Sie sind einfach die Beste, so kluge Fragen und so hübsch noch dazu!“
Glück kramte in seiner Jacke herum und zog dann vorsichtig ein Foto aus seiner Brusttasche. "Sie haben hoffentlich einen stabilen Magen?", fragte er mit einem diabolischen Schmunzeln. Langsam drehte er das Abbild der Tat in ihre Richtung. Nach einem kurzen Blick veränderte sich Gretels Gesichtsfarbe in Richtung Fertigteig und sie stammelte entsetzt vor sich hin "Neh, neh - das kann doch nicht wahr sein!"
„Es muss schon ein sehr realistischer Geist sein, der auf so eine normale Idee kommt“, stellte Gretel erschüttert fest. Das Foto zeigte einen von dutzenden Rosen gespickten Rumpelstilzchen mit Goldfaden an eine Zuckerstangenlaterne des Schwanenseer Rotlichtviertels gebunden. Zwischen den Zähnen klemmte ihm ein Schneeglöckchen.
„Abscheulich, nicht wahr? Wir haben schon ein SHK-Team zur Spurensicherung am Tatort.“
„Ein was-Team? Ist das eine Ihrer neumodischen Errungenschaften, Herr Glück?“ Der Tag musste ja schlimmer werden. Gretel konnte nichts mit diesem neumodischen Polizeikram anfangen. Das war auch einer der Gründe, weshalb sie sich eigentlich aus dem Polizeidienst zurückziehen wollte. Sie vermisste die uneffektive Polizeiarbeit von damals, als ehrliche Ganoven noch eine reelle Chance hatten.
„Ein Sonderheinzalmännchenkommando-Team. Das Beste, was man auf einen Tatort loslassen kann. Es gibt keine Filzlaus, die die Jungs nicht finden würden“, erzählte der Polizeichef, nicht ganz ohne Stolz.
„Na prima, dann wissen wir ja bald mehr von Herrn Rumpelstilzchens intimsten Freunden“, spottete Gretel.
Nach einer ganzen Weile Ruhe im Auto und ungefähr 50 weiteren Metern im Stau vor Schwanensee, fiel es wie Lebkuchen von Gretels Augen. „Herr Glück, als Sie das Foto vom Tatort gemacht haben, haben sich die Rosen da in irgendeiner Weise bewegt?“
Schneeweißchen wirkte kaum beeindruckt von den tolpatschigen Einschüchterungsversuchen, welche Glück mit einer etwas zu zittrigen Stimme anbrachte. Kühle Blonde, die sie war konnte sie der milchgesichtige Bulle gar nichts. Rosenrot war da eine Spur unlockerer.
Der Schmalspurschnüffler hätte sie auch nicht schockiert, aber die wohlgeformte Ische welche mit dem,Beamten eintrat, raubte ihr fast den Verstand.
Bahnhof Lebkuchenland, an dieses grimmig dreinblickende Stück Vollblutweib hatte sie doch das Oxazepam und die Valium verkauft? Ein Irrtum war ausgeschlossen. Zivilpolitesse vielleicht, miese Ratte.
Gretels strenger Blick streifte die anorektische Gestalt, der Rosenrot ,welche sich mehr schlecht als recht hinter ihrer Schwester zu verbergen versuchte. Schneeweißchen widerrum baute sich vor den Inspektoren auf, wie ein sprungbereite Kickboxerin in der Königsklasse.
>> Also Frau, entschuldigens Fräulein Schneeweißchen sie wollen also einen direkten Zusammenhang zwischen ihren ausgefallenen Kreationen und dem Gestrüpp auf diesem makabaren Mordszenario nicht wirklich erkennen ?<< fechelte Glück unbeholfen mit dem Polaroid des Tatorts vor der spitzen Nase Schneeweißchens herum. Diese blickte ignorant in Richtung eines Magheritenstraußes und schüttelte mit zugespitzten Lippen das verführerische Gesicht.
Shit! durchfuhr es Gretel elektrisch, dass ihre Brustwarzen steif wurden, als ihr mit Valium gedämpftes Hirn die Nebenerwerbstdealerin vom Bahnhof Lebkuchenland erkannte. Übertrieben räuspernd eröffnete sie Glück das ihr der vorherrschende Blumenduft etwas zu streng sei und sie darum an die frische Luft müsse. Glück sah ihr kurz Schulter zuckend hinterher und widmete sich danach wieder vergebens der Vernehmung von Schneeweißchen.
Rosenrot atmete erleichtert aus, entschuldigte sich ebenfalls und verzog sich in den Angestelltenraum des Blumenladens. Der Druck war verdammt zu groß. Mit einer geübten Handbewegung krempelte sie den linken Ärmel ihres Floristenoutfits hoch, schnappte die Heckenschere und Schnitt sich einmal heftig in den Unterarm. Wie ein hässlich, spottendes Lachen aus dem roter Vino hervorsabberte klaffte die Haut auf und Rosenrot sank mit einem fast postkoitalen Seufzer in einen Haufen, tanzender Rosen, welcher sie in einer süß stacheligen Umarmung, gleich einer botanischen, eisernen Jungfrau empfing.
Entweder Stoff oder Schmerz. Junks not Dead war die Devise.
Gretel sog gierig die frische Luft ein, als sie plötzlich einen Schatten im Augenwinkel warnahm.
>> Hallo Gretel.<< kam es bestimmt von der Seite, das es ihr den eisigen Hauch der Pole den Rücken hinunter jagte. Sie schloss die Augen.
>> Aschenputtel, war klar das du früher oder später auftauchen würdest.<< seufzte sie mit einer gewissen Ambivalenz, zwischen Freude und Kotzreiz.
>> Ich glaube ich hätte da etwas das dich interessieren könnte.<< flüsterte Aschenputtels fast schon karamelisiernde Agentestimme an ihr Ohr,
>> Ach ja?<< Gretel wand sich zu ihr herum.
>> Natürlich für einen gewissen Preis.<< lächelte es schneeweiß, fast blendend, aus dem vornehm blassen Gesicht mit den saftig, roten Lippen.
Gretels Blick verfinsterte sich. >> Das war zu befürchten ?<<
Ein Unwetter verheißender Windstoss fegte Glück um die Ohren, als er aus dem Laden trat und fluchend schlug er den Kragens eines Mantels hoch. >> Gretel?<< Doch von Gretel war keine Spur. Er stand alleine im aufkommenden Sturm.