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Kalter Herbstwind rauschte in den Bäumen, die um den kleinen Friedhof herum standen und zahllose bunte Blätter flogen quer durch die klare Luft. Am Horizont bildete sich bereits eine graue Wolkenfront, die mit dem Wind unaufhaltsam näher kam, und sicherlich eine Menge Regen im Schlepptau hatte.
Sam stand wie ein eiserne Statue vor dem Grab ihrer Mutter, einen zerrupften Blumenstrauß in der einen Hand, die andere hatte sie in die Manteltasche vergraben. Ihr langes braunes Haar war unter einer bunten Ringelmütze versteckt, trotzdem riss der Wind an ein paar losen Haarsträhnen und trieb ihr die Tränen in die Augen.
Sie wusste nicht, wie lange sie hier schon stand und auf den weißen Grabstein starrte, auf dem der Name ihrer Mutter einemeißelt war. Viele Menschen in Schwarz waren heute gekommen, hatten ihr die Hand geschüttelt, ihr gesagt, wie sehr es ihnen Leid tat, ein paar hatten sie sogar in den Arm genommen. Doch Sam hatte von alldem nicht viel mitbekommen. Selbst die Umarmungen und Worte, die vor Mitleid nur so strotzten, waren sang- und klanglos an ihr abgeperlt.
Eine kräftie Windböe riss an ihrer Jacke und sie zitterte heftig. Heftig blinzelte sie die Tränen weg und seufzte. Es waren nicht die Tränen der Trauer. Die waren schon vor langer Zeit versiegt. Wenn sie genau darüber nachdachte, so glaubte sie kaum, dass sie jemals wieder würde weinen können. Sie war vollkommen leer.
Das Mädchen beugte sich vor, um den Blumenstrauß auf das Grab zu legen und richtete sich dann wieder auf, die Arme fest um den Oberkörper geschlungen.
"Ich muss jetzt gehen, Mama", sagte sie, als würde sie tatsächlich mit ihrer Mutter sprechen. Ihre Stimme klang rau, weil sie sie so lange schon nicht mehr benutzt hatte, und wenn, dann hatte sie in einem kaum verständlichen Geflüster gesprochen. Eine Weile blieb sie stumm, dann fügte sie hinzu: "Ich werde irgendwann wieder vorbeikommen, ja? Wünsch mir viel Glück."
Und so schnell, dass sie beinahe über das Blumenmeer gefallen wäre, lehnte sie sich vor, drückte den Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand an die Lippen und presste die Finger dann auf den Namen ihrer Mutter: Elisa Vèrde.
Stumm drehte Sam sich um, schritt auf dem knirschenden Weg zwischen den vielen Gräbern hindurch und auf das schwarze Tor zu. Ohne einen letzten Blick auf den weißen, neuen Stein in der Mitte all der anderen zu werfen, wandte sie sich nach rechts und ging nach Hause, wo sie all ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken würde, um endlich aus diesem verfluchten Dorf entfliehen zu können. Sie würde in die Stadt gehen, wo kein Mensch sie kannte und auch sie keinen kannte.
Dort würde sie ihr Leben beginnen.

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"Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du hingehst." Leopold lehnte am Türrahmen und sah seiner kleinen Schwester beim Packen zu. Sam, die mit Leo gemeinsam gefrühstückt hatte, lugte aus dem alten Eichenschrank hervor, wo sie in den hintersten Ecken verzweifelt nach ihren blauen Pumps suchte.
"Hast du vielleicht meine blauen Schuhe gesehen? Ich finde die unglaublichsten Sachen im Schrank, nur nicht diese verdammten Treter."
"Fluche nicht Schwesterchen", murrte Leo. "Also, wo gedenkst du hinzugehen?"
"Ach Leo! Das willst du doch gar nicht wissen", seufzte Sam, stieg aus den Schrank und küsste ihrem Bruder auf die Wange. Dass sie ihren zarten Körper dabei auf den Zehenspitzen balancieren musste, war kein Problem. Für irgendetwas musste der Ballettunterricht aus ihrer Kindheit schließlich gut sein. Hat den Eltern genug Zeit und vor allem Geld gekostet, dachte sie daran zurück, wie ihre Mutter, trotz der vielen Arbeit auf dem Hof, sie Woche für Woche zum Unterricht in die Stadt gefahren hatte.
Martina! fuhr ihr wie ein Blitz die ehemalige Mitstreiterin beim Ballett ein. Wir haben uns so gut verstanden, damals, als Kinder. Ob sie noch in der Stadt bei ihren Eltern lebte? Die besaßen dort ein großes Haus, in dem Sam mehrmals bei der Freundin übernachtet hatte. Vielleicht könnte ich bei ihr erst einmal unterkommen. Sam strahlte. Das würde ihr vieles erleichtern.
"Wieso will ich das nicht wissen", wollte Leo wissen, angesäuert ob dieser Unterstellung.
"Weil du dich dann verpflichtet sähest, dich um mich zu kümmern", antwortete Sam gut gelaunt. "Und das wollen wir doch beide nicht. Mach dir keine Sorgen. Du wirst mit deinem Hof und ich mit meinem neuen Leben glücklich."
"Gott stehe uns bei", wünschte Leo leise.
Sam schloss den großen Trolli, klemmte ihre Handtasche unter den Arm und sagte: "Fände ich gut. Vielleicht zeigt er mir noch schnell, bevor ich gehe, wo meine ver... Pumps rumfliegen."

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Das schöne Herbstwetter schienen die Menschen in der Stadt gar nicht richtig zu bemerken. Sie rauschten wortlos aneinander vorbei, manche mit grimmigen Gesichtern, andere mit nachdenklichen oder lächelnden Gesichtern. Sam stand mit ihrem Trolli und ihrer Handtasche auf dem Bürgersteig und sah sich um. Hinter ihr saßen ein paar Leute draußen und schlürften genüsslich an einem dampfenden Kaffee oder aßen ein Stück Kuchen, während eltiche Menschen an ihren vorbei wuselten und auf der anderen Seite Autos die enge Straße entlangfuhren und sich gegenseitig verärgert anhupten. Sam lächelte ein wenig und atmete dann tief durch.
Natürlich war ihr vollkommen klar gewesen, dass das Leben in der Stadt nicht im größeren Kontrast als zu dem auf dem Hof stehen könnte. Hier grüßten die Leute sich nicht einfach so, wenn sie einander nicht kannten. Die Luft roch nach Abgasen und war erfüllt von lautem Menschengemurmel.
Und trotzdem verspürte Sam eine unbändige Vorfreude auf ihr neues Leben hier.
Sie holte ein letztes Mal tief Luft und stellte sich mit vielen anderen an die Ampel, die nach ein paar Minuten endlich auf Grün umsprang. Sam wurde angerempelt und sie entschuldigte sich sofort. Als sie drüben angekommen war, bog sie nach rechts ab und ging den breiten Gehsteig hinunter, an vielen Schuhgeschäften, Juwelieren und Spielzeugläden vorbei. An einem Geschäft, in dem wunderschöne handgemacht Kerzen verkaufte, blieb sie kurz stehen und betrachtete die fantasievoll gestalteten Werke.
Vielleicht sollte ich Martina und ihren Eltern ein kleines Geschenk mitbringen, überlegte sie und betrachtete die Preise, bei denen ihr die Röte ins Gesicht stieg. Räuspernd wandte sie sich ab und ging weiter.
Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Wie sollte sie ihren Lebensunterhalt bloß verdienen? Vor einem Jahr hatte sie zwar ihren Abschluss gemacht, aber seitdem auf dem Hof ihrer Eltern ausgeholfen. Um ihre eigene Zukunft hatte sie sich nicht viele Gedanken machen müssen, denn sie hatte etwas zu essen und ein weiches Bett gehabt. Was wollte sie mehr? Aber nun würde sich das ändern müssen.
Ach, ich werde schon was finden, beruhigte sie sich und lächelte ein wenig. Sie durchquerte einen breiten Torbogen und blieb am Rand einer kleinen Brücke stehen. Hier hatte sie mit Martina die Schwäne gefüttert, die im Sommer auf dem Wassers des kleinen Flusses schwammen. Jetzt sah sie keine.
Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis sie endlich das Haus ihrer ehemaligen Freundin erreicht hatte. Es lag ein wenig außerhalb des Tummults der Stadt in einer Seitengasse. Ein weißer Zaun umrundete das gesamte Grundstück und ein großes, beiges Haus erhob sich hinter den bunten Bäumen, die bereits ihre Blätter verloren.
Sam blieb stehen und sah sich um. Die Gegend hier schien nur für die etwas Reicheren zu sein, so wie die Gärten und Häuser aussahen. Ihr wurde mulmig zumute. War es tatsächlich nicht zu viel verlang, wenn sie einfach so auftauchte und bei der Familie unterkommen wollte, bis sie etwas eigenens gefunden hatte?
"Egal. Ich werde ja auch für alles bezahlen", murmelte Sam und öffnete das kleine Türchen, das auf das Grundstück führte. Ihr fiel auf, dass der Rasen makellos war. Sicher haben die einen Gärtner, dachte sie.
Sie stieg mühsam die Treppen hinauf und hievte mit einiger Mühe ihren tonnenschweren Koffer hinterher und musste oben erst mal durchschnaufen, bevor sie auf den kleinen Knopf drückte. Von drinnen ertönte ein melodisches Klingeln, dann war es still.
Sam wartete geduldig, bis sie Schritte hörte und die Tür aufgerissen wurde.
Und sie bekam den Schock ihres Lebens.
Die kleine, nette Martina von früher, die in ihrem rosanen Kostüm wie eine Prinzessin ausgesehen hatte, hatte sich in ein schwarzes Monstrum verwandelt. Na ja, das war vielleicht etwas übertrieben, aber es erschrack Sam doch, wie sehr ihre Freundin sich verändert hat. Die Augen waren schwarz angemalt, das einst blondbraune Haar schwarz gefärbt und sie trug ausschließlich dunkle Klamotten. Keine süße kleine Prinzessin mehr.
Sam zwang sich zu einem Lächeln und räusperte sich erneut.
"Hey, Martina."
Das konnte ja heiter werden, dachte sie und zog ihre Mundwinkel weiter nach oben.

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"Ja. Was willst du?"
Sam erinnerte sich an eine Filmszene, in der eine ähnliche Situation dargestellt wurde. Spontan griff sie das Erinnerte auf: "Ja super. Begrüßt Frau so eine alte Freundin. Ohne Verdruss lächelte sie weiter. Wenn sich ihr Verhalten nicht sofort ändert, werde ich mich umdrehen und gehen, dachte Sam, als Martina sie endlich erkannte.
"Samantha? Sam! Ich glaub es nicht. Wo kommst du denn jetzt her. Egal, kannst du mir später erzählen; komm erstmal herein." Bevor Sam reagieren konnte, zerrte Martina sie samt ihres Gepäcks durch die breite Haustür; die Martina, kaum dass sie das Haus betreten hatten, mit einem Absatzkick zudonnerte.
"Los, schmeiß die Klamotten weg und lass dich erst einmal umarmen", brüllte Martina und drückte Sam feste an sich.
Martina wusste nicht so recht, was sie von der Situation halten sollte. So dicke Freundinnen waren sie beide eigentlich nie gewesen, sodass ihr diese überschwängliche Begrüßung ganz entschieden übertrieben vorkam.

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Sam lächelte noch immer ein wenig gequält und musste nach Luft schnappen, nachdem Martina sie endlich losgelassen hatte.
"Ich freu mich auch, dich zu sehen", antwortete Sam und sah sich verstohlen um. Sie standen in einem hohen Treppenhaus, das von schmalen Fenstern beleuchtet wurde und ganz oben hing ein gigantischer Kronleuchter. Sofort kam Sam sich dreckig und mickrig vor.
"Ist ja voll die Überraschung", rief Martina aus und zog Sam hinter sich her durch das Treppenhaus, die Marmortreppen hinauf in den ersten Stock und durch eine Tür. Sie kamen in ein großes Wohnzimmer, das hell beleuchtet war und nur aus den schönsten Möbeln zu bestehen schien.
Martina ließ sich in das weiße Sofa plumpsen und überschlug die Beine.
"Du kannst dich ruhig hinsetzen", sagte sie und grinste Sam an.
Diese nickte nur und setzte sich ihr ein wenig ungeschickt gegenüber. Nun, da sie hier war, war sie sich nicht mehr so sicher, ob das tatsächlich eine so gute Idee gewesen war.
"Und wie geht's dir so? Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!", begann Martina und lehnte sich zurück.
"Stimmt", sagte Sam sehr geistreich und räusperte sich. "Vielleicht hast du mitbekommen, dass meine Mutter vor Kurzem gestorben ist."
Das geschminkte Gesicht von Martina wurde blass und die Augen schienen riesig zu werden. "Oh shit! Das tut mir echt Leid, Sammy." Sie beugte sich ein Stück vor und sah Sam dabei fest in die Augen. "Wie hast du das denn so einfach wegstecken können? Ich meine, wenn meine Mum gestorben wär, hätt ich wahrscheinlich Tag und Nacht geheult."
Sam lächelte traurig. "Irgendwie hab ich das schon gepackt. Mein Bruder war ja auch noch da. Ohne ihn hätte ich das wahrscheinlich nicht so leicht bewältigen können."
"Da kannst du echt froh sein, dass du einen Bruder hast. Ich bin Einzelkind. Aber dafür hab ich ziemlich viele Freunde." Martina lächelte breit und stand auf.
"Hey, hast du Hunger oder so? Ich hab mir vorhin was vom Chinesen geholt. Willst du auch was?"
"Nein, danke. Ich hab schon was gegessen." Das stimmte zwar nicht, aber sie hatte wirklich keinen Hunger. Ihr war eher schlecht. Der schlimmste Teil des Gesprächs kam ja noch.
"Ok. Aber du hast doch sicher Durst. Komm mit." Sie ging voran in die Küche, die fast so große wie das Wohnzimmer war. Alles blitzte und Samantha staunte nicht schlecht.
"Wow."
"Du solltest mal unseren Partyraum sehen!", lachte Martina, nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Orangensaft. Sie stellte das Glas vor Sam hin, die sich auf einen Barhocker gesetzt hate und nahm sich dann eine der Pappschachteln.
"Äh....Martina? Ich hätte da eine Frage", fing Samantha an, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, um ihre Kehle zu befeuchten. Ihr Magen zog sich plötzlich zusammen und sie verstummte.
"Ja?", brachte Martina heraus und schob sich eine Frühlingsrolle in den Mund.
"Öhm...mein Bruder ist ja jetzt allein auf dem Hof und ist damit ziemlich beschäftigt. Da dachte ich mir, dass ich mir mein eigenes Leben aufbaue."
Martina nickte und aß weiter.
"Na ja. Das geht alles natürlich nicht so schnell und ich dachte, vielleicht könnte ich ein paar Tage bei euch unterkommen. Aber nur, wenn deine Eltern nichts dagegen haben, natürlich. Ich würde auch Miete zahlen und ..."
Martina wedelte mit einer Hand vor Sams Gesicht herum und brachte sie so zum Schweigen.
"Hey, du brauchst mir nicht gleich nen Porsche versprechen, nur um hier zu wohnen. Klar geht das in Ordnung. Meine Eltern sind eh nie da und ich hab das Haus praktisch für mich allein." Sie grinste breit. "Und jetzt kann ich auch mal ne geile Party schmeißen, wenn ich Unterstützung habe."
Sam lächelte und trank einen großen Schluck.
"Ja. Das wird sicher toll."

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