"Ich muss noch zum Spind", sagte Louise und wich einem der unzähligen Fünftklässler aus, die die engen Gänge des Schulhauses besiedelten. "Echt. Irgendwann überrollen die noch die ganze Schule", murmelte sie und schickte dem Knirps einen vernichtenden Blick hinterher.
"Cool. Ich wart in der Aula", erwiderte Nina und schlurfte müde die Treppe hinunter, die Schultasche schräg über einer Schulter hängend. Louise sah ihr nach und verkniff sich das Lachen, als ihre Freundin unachtsam damit einem aus der Unterstufe heftig gegen den Hinterkopf knallte.
Louise quälte sich durch die Schülermassen, schaffte es dann irgendwie zu ihrem Spind, wo sie beinahe den Schülern, die am Boden hockten, auf die Finger trat, und holte ihr Biobuch hervor. Fluchend bahnte sie sich einen Weg wieder hervor und schenkte dem ganzen Getümmel einen bitterbösen Blick.
Louise ging den Gang entlang und beobachtete die Menschen unten in der Aula, die sich mehr oder weniger enthusiastisch mit dem befassten, was man in einer Schule eben so tut.
Das Mädchen fand ihre Freundin an einem der wenigen unbesetzten Tische. Sie hatte ihren Kopf auf den Schulranzen gelegt und die braunblonden Haare fielen über ihr Gesicht.
Louise setzte sich neben sie und starrte Nina an. "Hallo?" Keine Antwort. "Lebst du noch oder stirbst du schon?" Sie hörte ein undefinierbares Grunzen, aber Nina regte sich immer noch nicht.
Louise zog eine Braue hoch, zog ihre Wasserflasche hervor und stupste Nina damit in den Oberarm.
Ein verschlafenes, zerknittertes Gesicht erhob sich und Nina starrte ihre Freundin aus kleinen Augen an.
"Was'n?"
"Ich wollt nur sehen, ob du noch lebst", erwiderte diese und kramte ihr Pausenbrot hervor.
"Aha", brummte die andere und knallte ihren Kopf wieder auf den Ranzen. Louise schüttelte leicht den Kopf und wandte sich dann ihrem Brot zu. Sie hatten erst mal die kleine Pause, die fünfzehn wichtige Minuten dauerte, und danach zwei Freistunden. Das einzig gute, da sie nun in der Oberstufe waren, war, dass sie ziemlich viele Freistunden hatten. Die sie aber hauptsächlich mit Lernen, lernen und lernen verbrachten, weil daheim einfach keine Zeit mehr dafür war. Ach ja, und manchmal schlief man auch, um irgendwie in den darauf folgenden Unterrichtsstunden wach bleiben zu können. Man siehe sich nur mal Nina an.
Während Louise ihr Pausenbrot verspeiste, beobachtete sie die Schüler in der Aula. Die Unterstufler setzten alles daran, von den wenigen Lehrern, die hier Patrouille liefen, nicht erwischt und nach draußen in den kalten Nebeltag verbannt zu werden. Die älteren gammelten gemütlich auf ihren Stühlen herum, flirteten, was das Zeug hielt, und plauderten in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Man verstand kaum mehr sein eigenes Wort, besonders wenn man das Glück hatte, neben einer Gruppe Fünftklässler zu sein, die nun doch von einem Lehrer entdeckt worden waren und maulend und meckernd nach draußen gingen.
Louise nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasch, verstaute alles in ihrem Rucksack und lehnte sich dann im Stuhl zurück.
"Hey, als nächstes haben wir zwei Freistunden", sagte sie und vernahm ein grummelndes: "Na super." aus Ninas Richtung.
Das Mädchen verzog das Gesicht. "Ein bisschen mehr Begeisterung könntest du dafür nicht aufbringen, oder?"
Keine Antwort.
Also langsam nervt's, dachte Louise.
"Haaaaallo!", rief sie über den Lärm hinweg und ein paar Schüler drehten sich neugierig zu ihr um.
Nina erhob sich, wedelte gekünstelt mit den Armen in der Luft rum - wobei sie fast die Menschen hinter sich erwischte - und machte ein pseudo-begeistertes "Wohoooo!" Dann verfiel sie zurück in ihre schlafähnliche Trance. "Besser so?", murmelte sie und schaffte es sogar, nicht wieder leblos auf ihren Schulranzen zu sinken.
"Och, joah. Schon mal ein ganz guter Anfang", meinte Louise und grinste ihre Freundin an. Diese schüttelte nur den Kopf und fuhr sich über das Gesicht. Louise fragte sich ernsthaft, wie lange Nina eigentlich geschlafen hatte. Vermutlich nicht sehr lang...
"Hey, sollen wir zum Edeka laufen? Dann kannst du dir Schokolade kaufen, um wieder auf Vordermann zu kommen", schlug Louise vor und wusste schon, wie ihre Freundin reagieren würde. Diese hob bei dem Wort "Schokolade" augenblicklich den Kopf, bekam ganz große, glänzende Augen und nickte eifrig.
"Schoki", formte sie mit dem Mund und war bereits aufgestanden. Louise verkniff sich ein Lachen. Es war wie ein Zauberwort. Sagte man irgendetwas, das mit Schokolade in Verbindung gebracht werden konnte, hellte sich Ninas Stimmung schlagartig auf und sie war Feuer und Flamme. Nichts würde sie mehr daran hindern, ihre heiß geliebte Schokolade zu bekommen. Rein gar nichts.
Sie durchquerten die Aula, die noch immer voll war, und wurden draußen von einer ekligen Nebelsuppe empfangen. Man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Es war, als würde der Nebel, in alle Poren dringen und die Geräusche der nahe gelegenen Straße verschlucken.
Unheimlich, dachte Louise und zog die Schultern hoch.
Nina jedoch schien gar nicht zu bemerken, dass es neblig war. Sie rannte fast den Weg zum Edeka hinunter und Louise hatte Schwierigkeiten, mit ihrer Freundin mitzuhalten. Als sie dann endlich den Laden erreicht hatten, schlug Nina schnurstracks den Weg zur Schoko-Abteilung ein, der sie wie ein Magnet anzog. Nina deckte sich mit Schoko-Keksen, Ritter-Sport und Schoko-Mikado-Stäben ein (Keine Ahnung, wie die Dinger heißen...). Louise begnügte sich mit einer Tafel dunkler Schokolade.
"Wenn du nicht aufpasst, wirst du fett von dem Zeug", prophezeite Louise ihrer Freundin, während sie den Weg zur Schule zurück gingen. Nina stopfte sich bereits mit Schoko-Keksen zu.
"Gar nicht", mampfte sie. "Ich muss später noch zum Bahnhof laufen, da krieg ich das wieder runter."
"Wenn du meinst", murmelte Louise als Antwort und sie setzten ihren Weg fort. In der Großen Aula war es noch immer laut und voll. Also stiegen sie die Treppe hinauf und wurden bitter enttäuscht, als ihr einziger Zufluchtsort hier an der Schule auch noch abgesperrt war.
Die Bibliothek.
"Ach, mennoooooo", meckerte Louise und wandte sich an Nina, die noch immer kaute. Mittlerweile war sie bei ihrer Ritter-Sport angelangt. "Was machen wir jetzt?"
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern und schluckte. Gemeinsam sahen sie nach unten. Die Große Aula kam nicht in Frage: vollgestopft mit kleine, lärmenden Kindern.
Also quälten sie sich zur Kleinen Aula, die nur einen Gang entfernt lag. Auch diese schied aus: merkwürdige Streberkinder und Putzfrauen, die ihnen unheimliche Blicke zuwarfen, als wären sie die ersten menschlichen Wesen, die ihnen heute über den Weg gelaufen waren.
Schnell gingen sei weiter und dachten nach, wo sie ungestört ihre Schoki verspeisen und ungestört plaudern konnten.
Nachdem sie dann das gesamte Schulhaus durchkämmt hatten, stapften sie trübsinnig die Treppe zum zweiten Stock hinauf, in dem es kalt war und keine Menschenseele zu sehen war. Alles war staubig und alt.
"Wow." Ninas Stimme hallte in dem leeren Gang wider. "Man sollte echt meinen, eine so riesige Schule hätte irgendeinen Platz, wo man sich ausspannen könnte-eeeeee!" Ihr Satz ging in einem überraschten Schrei unter und dann hörte Louise neben sich ein Rumsen und einen Fluch.
Als sie sich umdrehte, brach sie in lautes Gelächter aus. Nina hing schief mit ihrer Schultasche an einer Türklinke, die Schoki noch in einer Hand, den Ordner in der anderen. Nur waren jetzt die ganzen Blätter auf mysteriöse Weise abhanden gekommen und lagen nun verstreut auf dem Boden.
"Schön, dass ich dich so amüsiere", maulte Nina, erhob sich schwerfällig und begann, ihre Blätter einzusammeln. Als Louise sich gefangen hatte, half sie ihrer Freundin und stand dann wieder auf.
"Speicheraufgang Nummer 16", las sie laut das blaue Schild neben der braunen Holztür vor. "Seit wann haben wir einen Speicheraufgang?"
"Keine Ahnung", grummelte Nina und stellte sich dann neben Louise. "Hört sich aber cool an."
Louise warf ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. Diese zuckte nur mit den Schultern und biss ein Stück ihrer Rittersport ab. Das andere Mädchen seufzte und sah den Gang auf und ab. Kein Mensch. Welcher normale Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hatte, kam auch zu dieser Zeit hier hoch?
Das heißt dann wohl, dass wir nicht mehr alle haben, oder?, grübelte Louise nach und zuckte ebenfalls mit den Schultern.
"Wenn wir schon mal da sind, können wir auch gleich gucken, was da so drin ist."
Und dann legte sie die Hand auf die Klinke. Sie hatte angenommen, dass die Tür verschlossen war, aber es machte ein lautes Klicken und die Tür schwang nach außen auf. Drinnen war eine weitere Tür in Grau. Auch diese war offen.
"Ey, coooool!" Nina ging an ihrer Freundin vorbei in den kleinen Raum. Louise folgte ihr dichtauf.
"Dürfen wir hier eigentlich sein?", fragte Louise und folgte Nina durch die graue Tür. Drinnen war es kühl und es roch nach Moder. Sie rümpfte augenblicklich die Nase und sah sich um. Es war ziemlich eng. Zu ihrer Rechten führte eine alte Holztreppe nach oben - was auch immer da oben sein mochte - und ihnen gegenüber ließ ein riesiges Fenster ein wenig gedämpftes Licht hinein. Zwei alte Schultische standen an der linken Wand, auf denen irgendwelche Kartons und Bilder lagen.
"Keine Ahnung. Ist doch auch egal oder?"
"Eigentlich schon", stimmte Louise ihrer Freundin zu, die ihre Tasche samt Ordner auf die Fensterbank schleuderte und sich daran machte, die Bilder in Augenschein zu nehmen.
"Das sieht cool aus." Sie hielt eines der eingerahmten Bilder hoch, auf dem eine merkwürdig eckige Figur zu sehen war, die von gruselig aussehenden Grabsteinen umzingelt war. Louise hob missbilligend eine Braue und sagte: "Du bist komisch."
"Ich weiß."
"Ich wollt dich nur noch mal dran erinnern." Louise besah sich die Fensterbank, auf der unzählige tote Fliegen lagen. "Igitt." Sie pustete die toten Viecher weg und hockte sich auf die Fensterbank. Nina tat es ihr gleich, nachdem sie die Bilder durchstöbert hatte.
"Was is'n da oben?", fragte Nina mit vollem Mund und deutete mit ihrer freien Hand die Treppe hinauf, die ihnen direkt gegenüber nach oben führte. Louise hielt im Kauen inne und starrte nach oben. Es erinnerte sie an eine alte Gruft, wie sie manchmal in Mittelalterfilmen zu sehen waren. Ein leichter Schauer überkam sie und sie schluckte schwer.
"Keine Ahnung. Ich war ja noch nie hier", gab sie ein wenig patzig zurück.
"Hm", machte Nina und legte die Schokolade beiseite. Sie ließ sich von der Fensterbank gleiten und lugte die Treppe hinauf. Es war nur ein niedriges ... Etwas zu sehen. Wie sollte man sowas beschreiben? Als eine Art Mini-Diele? Nur dass man eine Diele mit Wärme und Geborgenheit in Verbindung brachte. Eigentlich. Diese "Diele" war mehr als winzig und kahl und grau und dunkel. Sehr dunkel.
Und gruselig.
"Uargh! Du willst doch da nicht hoch, oder?", fragte Louise und gesellte sich widerstrebend zu ihrer Freundin. Eine alte Lampe hing an der niedrigen Decke. Sie sah nicht aus, als würde sie noch funktionieren. Noch ein Grund mehr, da nicht hoch zu gehen. Der andere war, dass es total unheimlich war.
"Keine Ahnung. Wär doch interessant. Vielleicht finden wir ja irgendwelche alten Dokumente über die Schule oder so. Oder alte Bücher." Nina grinste ihre Freundin an. Diese seufzte schwer und meinte dann: "OK. Aber wenn uns jemand erwischt, bist du Schuld. Und du gehst als Erste hoch."
"Geht klar. Was?!"
Nina richtete sich auf und starrte ihre Freundin an. "Wieso muss ich da als Erste hoch??"
Louise hob triumphierend eine Braue. "Du warst doch so scharf drauf, irgendwelche bescheuerten Verschwörungstheorien zu finden. Also. Dann mal los." Sie gab ihrer Freundin einen leichten Schubs und folgte ihr dann langsam die Treppe hinauf, die bei jedem Schritt wie höllisch knarrte. Insgeheim hoffte sie, die Treppe würde nicht jeden Moment unter ihnen zamkrachen. Oder noch schlimmer: Ein Lehrer würde sich hierher verirren und das Knarren und ihr hysterisches Gekicher von draußen vernehmen.
"Shit", fluchte Nina, als sie oben angekommen waren und sie sich prompt den Kopf an der Decke anstieß. "Ich bin zu groß für diese Scheiße!"
Louise kicherte und stellte sich dann neben ihre Freundin. Es gab zwei Türen. Das war schon mal schlimm genug. Und was noch viel komischer war - jedenfalls für sie - die eine war nur angelehnt, während die andere geschlossen war.
"Und jetzt?", fragte Nina und versteckte die Hände in ihrem überlangen Pulli.
"Wie, was jetzt? Wir gehen da natürlich rein", meinte Louise und sie fühlte sich eindeutig nicht so gelassen, wie sie sich vielleicht anhören mochte.
"Was? Aber ..."
"Wieso sind wir diese blöde Treppe denn hochgegangen, wenn wir nicht mal reinschauen, huh?"
Das schien Nina zu überzeugen. Jetzt wie ein paar Angsthasen die Treppe runterzupoltern wäre bestimmt nicht förderlich für ihr Selbstbewusstsein. Es hatte sie ja schon Mühe gekostet, das alte Teil überhaupt hochzugehen.
"Ok."
Langsam stupste Nina die angelehnte Tür, die quietschend ein Stück weit aufschwang. Von drinnen drang ein merkwürdiges vibrierendes Geräusch an ihre Ohren. Ein kalter Windstoß fegte ihnen die Haare aus dem Gesicht und schickte einen staubigen Geruch mit sich.
"Oh scheiße", fluchte Nina und klammerte sich an Louises Ärmel.
"Was?", flüsterte das Mädchen und lugte an ihrer Freundin vorbei. Was sie sah, war nur die Silhouette eines gewöhnlichen Stuhles, hinter dem so eine Art Seil herunterhing. Die wildesten Gedanken rasten durch ihren Kopf: Jemand, der sich mithilfe des Stuhls und des Seils dahinter erhängt hatte? Und wer, zum Teufel, stellt da bitte einen Stuhl hin? Dann glitt ihr Blick hinter den Sthul. Eine winzige Türöffnung, durch die vielleicht ein Hobbit gepasst hätte, beschien den Stuhl von hinten.
"Scheiße, sieht das gruselig aus", flüsterte Louise mehr zu sich selbst und klammerte sich nun ihrerseits an ihre Freundin.
"Los, gehen wir rein."
"Bist du sicher?", fragte Louise und sah ihre Freundin an. "Wie bist denn du drauf?" Nina sah irgendwie gar nicht verängstigt aus. Eher ... neugierig? "Hast du keinen Schiss?"
Diese zuckte nur vage mit den Schultern und trat einen Schritt durch die Tür, wobei sie ihre Freundin ungewollt mitzog.
"Argh! Warte doch mal!"
Doch Nina ging einfach weiter. Das Bisschen Licht, das durch die Tür hinter ihnen fiel, beleuchtete gerade mal die ersten paar Meter. Es war ein staubiger Betonboden, auf dem sie liefen. Zu beiden Seiten arbeiteten irgendwelche dicke Rohre auf Hochtouren. Wofür die auch immer gut sein mochten ...
Diese Art Gang, in denen sie sich befanden, war recht breit und so gingen sie dicht nebeneinander her. Es war erstaunlich weit, bis sie in die Nähe des Stuhls gekommen waren. Dann blieb Nina stehen.
"Riechst du das auch?"
Louise, die gerade Todesängste ausstand, sah zu Nina hoch, erkannte aber nur Schwärze. "Nein, was?" Sie hasste es, dass ihre Stimme - und nebenbei auch ihr ganzer Körper - wie verrückt zitterte. Sie hob leicht den Kopf an und schnüffelte. Es roch ganz leicht nach ... Blut?
"Oh. Mein. Gott", würgte Louise hervor und schlug sich eine Hand vor den Mund.
"Blut", bestätigte Nina und endlich schwang auch ein wenig Nervosität in ihrer Stimme mit. Louise hatte schon befürchtet, sie sei die einzige, die im Begriff war, sich in die Hosen zu machen.
"Hey, lass uns bitte gehen, okay? Das ist mir echt viel zu gruselig hier und ..."
Ein Geräusch, das die beiden Mädchen herumwirbeln ließ, hallte plötzlich durch den Raum. Sie sahen gerade noch, wie die Tür hinter ihnen wie von selbst zuschlug. Das Quietschen hallte noch in ihren Ohren wieder, als Louise ein wimmerndes Geräusch ausstieß.
"Was war das?", zischte sie und krallte sich fest in den Arm ihrer Freundin, als ein eiskalter Lufthauch über ihre Wange fuhr. Der Geruch nach Blut wurde stärker. So langsam wie in Zeitlupe drehte sich den Kopf herum und starrte mit riesigen Augen in endlose Schwärze.
"Was war was?", zischte Nina zurück und packte ihre Freundin ebenso fest am Arm, dass diese fast aufgeheult hätte, so weh tat es. Doch ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem sich bewegenden wabernden Schatten, der langsam vor den beiden Mädchen Gestalt annahm.
"Was ist das?", wollte Louise ihre Freundin fragen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr. Sie konnte nicht einmal mehr blinzeln, geschweige denn atmen. Sie war vollkommen aus Stein und Nina erging es sicherlich nicht anders.
Der wabernde Schatten zog sich langsam zusammen und materialisierte sich zu einem ... Dämon? Was auch immer es sein mochte, es sah aus wie ein Mensch. Jedenfalls hatte es Arme, Beine, einen Oberkörper und einen Kopf. Ein Mensch, oder?
Oh Gott, bitte lass es einen Menschen sein, schoss es Louise durch den Kopf, aber wenn sie es sich recht überlegte. Welcher normale Mensch bestand aus Schatten und waberte so komisch wie der Typ da vor ihnen? Sie kannte keinen. Und sie hätte auch gern auf diese Begegnung verzichtet.
"Ahhhhhhh", machte der Mann-Schatten und es hörte sich wie ein erlösendes Seufzen an. Ein eisiger Schauer rann über den Rücken der Mädchen. Das was-auch-immer-da-auferstanden-ist breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken, um tief Luft zu holen.
Hatte er etwa einen Ganzkörperanzug an? Jedenfalls sah es so aus. Die Schatten um ihn herum hatten sich an seinen Körper geschmiegt und ihn umhüllt.
Erinnert mich irgendwie an Voldemort, dachte Louise und hätte ein hysterisches Lachen ausgestoßen, hätte sie noch Luft in ihren Lungen übrig gehabt.
Dann senkte der Mann die Arme und schaute die Mädchen direkt an. Seine Augen waren nicht zu sehen. Sein Gesicht war in Schatten gehüllt und hinzu kam noch, dass er von hinten beschienen wurde, sodass sie rein gar nichts erkennen konnten.
"Was für liebreizende Geschöpfe der Natur", meinte der Mann und seufzte erneut. Seine Stimme war erstaunlich rein ... und irgendwie sexy. Sexy??? Wie konnte eine kreatur aus Schatten bitte sexy sein? Wenn sie zudem noch nach Blut stank!
Keine der beiden Mädchen brachte einen Ton heraus.
"Aber ich sehe euch ja gar nicht richtig. Was für ein Jammer." Er hob eine Hand und schnippte mit den Finger. Sofort sprangen unzählige kleine Flammen um sie drei herum und beschienen die Anwesenden.
Der Mann - oder was er eben war - hatte helle Haut. Fast weiß. EIn Vampir? Scheiße, ich dachte, es gibt keine Vampire, jammerte Louise stumm.
"Ja. Außerordentlich reizende Geschöpfe seid ihr." Dann legte er den Kopf schief und schaute uns an. Er hatte golden schimmernde Augen. "Aber wieso seid ihr denn so stumm? Habt ihr etwa Angst?"
Er kam einen Schritt auf sie zu und streckte eine Hand nach ihnen aus. Wie durch ein Wunder stolperten sie im selben Moment zurück und die Flammen um sie herum bewegten sich mit ihnen.
"Aber aber, meine Mädchen. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Ich gebe zu, es ist sicher ein wenig ... nun, sagen wir, erschreckend, einen Dämonen wie mich aus heiterem Himmel auferstehen zu sehen -"
"Hah! Also doch ein Dämon!"
Entgeistert drehte Louise Nina den Kopf zu und starrte sie an. Sie hatte ein triumphierendes Gesicht aufgesetzt.
"Hast du sie noch alle?!", fauchte Louise sie an und zwickte sie in den Oberarm.
"Was denn?", fragte Nina, doch die beiden verstummten augenblicklich, als ein tiefes Lachen sie unterbrach.
Der Dämonen-Mann lachte aus vollem Hals und es hallte im Raum wider.
"Ihr beide seid wahrlich amüsant." Er hielt kurz inne und sah aus, als würde er über etwas nachdenken, dann lächelte er. "Wisst ihr, ich glaube, ich weiß, was ich mit euch anfangen werde."
"Wie bitte? Wissen Sie, wir sind nur aufm Sprung hier und wollten eigentlich gerade wieder gehen. Wir haben ja noch Unterricht und so, also, wir wollten Sie wirklich nicht stören, bei ... was auch immer Sie gemacht haben und ..." plapperte Louise drauf los, doch da legte der Dämon eine Hand auf ihren Mund. Erschrocken starrte sie in seine goldenen Augen. Wie war er so schnell da hingekommen??
"Schhhhh. Du redest zu viel, mein Täubchen."
"Moibken???", brachte sie hinter zugehaltener Hand hervor und starrte ihn an. Er strich ihr sanft über die Wange und wandte sich dann Nina zu.
"Ich war so lange allein, müsst ihr wissen. Ich sehne mich nach Gesellschaft." Er fuhr Nina leicht über das Haar und wandte ihnen beiden dann den Rücken zu. Die Mädchen warfen sich Blicke zu, die besagen sollten, dass sie so schnell sie konnten einfach umdrehen und zur Tür hechten sollten, bevor dieser Spinner weiter irgendwelchen Schwachsinn von sich gab. "Meine Diener haben sich von mir abgewandt und ich bin ganz allein. Was sollte ich all die Jahre tun? Niemand hat sich hierher verirrt. Sie haben sich vor diesem Ort gefürchtet." Er wandte sich ihnen zu und sie drehten ihm rasch die Köpfe zu und taten so, als hätten sie ihm zugehört. "Aber ihr zwei." Er deutete mit dem Finger auf sie. "Ihr zwei seid prächtige Menschen."
Prächtige Menschen?
Louise hob eine Braue, sagte aber nichts.
"Ihr lasst mich sicher nicht wieder allein. Ihr seid die einzigen, die ich habe."
"Warten Sie mal, ja?", ertönte Ninas Stimme. "Wir haben hier eigentlich gar nichts zu suchen. Wenn die Leher uns erwischen, sind wir geliefert. Also wären Sie wohl so freundlich und würden uns einfach gehen lassen? Ich hab nämlich keinen Bock auf einen Verweis und Louise sicher auch nicht."
"Louise?" Er richtete den Blick auf das Mädchen. "Das ist dein Name?"
"Eh...ja?"
Erneut lachte er voller Genuss und die Mädchen zuckten heftig zusammen. Dann richtete er den Blick auf Nina. "Und wie ist dein Name, meine Schöne?"
"Eh..." Nina warf ihrer Freundin einen Hilfe suchenden Blick zu, doch die zuckte hilflos mit den Schultern.
Der Dämon ging auf sie zu und legte ihr eine Hand auf die Wange. "Wie ist dein Name?" Voller Entsetzten verfolgte Louise wie der Dämon sich zu ihrer Freundin hinunterbeugte und seine Lippen an ihr Ohr legte. "Sag mir deinen Namen." Dann fuhr er sanft über ihre geschlossenen Augenlider und drängte sie, ihm ihren Namen zu sagen.
"Nein, sag es ihm nicht!", schrie Louise plötzlich und zog Nina mit sich. Die goldenen Augen hefteten sich auf das Mädchen, doch sie beachtete ihn nicht. Wie wild zog und zerrte sie an dem ausgewaschenen Pulli ihrer Freundin und beide stolperten sie in Richtung Ausgang.
"NEIN!"
Sein Schrei hallte in ihren Ohren wieder. Sie konnten ihn hinter sich spüren, aber sie waren schon an der Tür, Louise riss sie voller Wucht auf, zog ihre Freundin mit sich und knallte sie dann im letzten Moment hinter sich zu. Louise erhaschte noch einen letzten Blick auf das vor Wut verzerrte Gesicht des Dämons. Und noch etwas lag in diesem goldenen Blick.
Trauer und Schmerz.
Nina rannte so schnell es ihre zitternden Beine erlaubten die Treppen hinunter, krallte sich ihren Rucksack und den Ordner und hechtete dicht gefolgt von Louise aus dem Speicheraufgang.
Sie knallten die beiden Türen hinter sich zu und rannte den Gang hinuter, die Treppe runter und durch die Aula. Sie beachteten die neugierigen Gesichter nicht und die Menschen, die ihnen nachschauten. Sie hielten nicht an, bis sie im anderen Haus nach Luft schnappten und in eines der Mädchenklos preschten, das- Gott sei Dank! - leer war.
Es dauerte ungefähr eine Viertelstunde, bis sie wieder normal atmeten und sich aus großen Augen anschauten.
Und dann sagten sie wie aus einem Munde: "Oh shit!"