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"Ich muss noch zum Spind", sagte Louise und wich einem der unzähligen Fünftklässler aus, die die engen Gänge des Schulhauses besiedelten. "Echt. Irgendwann überrollen die noch die ganze Schule", murmelte sie und schickte dem Knirps einen vernichtenden Blick hinterher.
"Cool. Ich wart in der Aula", erwiderte Nina und schlurfte müde die Treppe hinunter, die Schultasche schräg über einer Schulter hängend. Louise sah ihr nach und verkniff sich das Lachen, als ihre Freundin unachtsam damit einem aus der Unterstufe heftig gegen den Hinterkopf knallte.
Louise quälte sich durch die Schülermassen, schaffte es dann irgendwie zu ihrem Spind, wo sie beinahe den Schülern, die am Boden hockten, auf die Finger trat, und holte ihr Biobuch hervor. Fluchend bahnte sie sich einen Weg wieder hervor und schenkte dem ganzen Getümmel einen bitterbösen Blick.
Louise ging den Gang entlang und beobachtete die Menschen unten in der Aula, die sich mehr oder weniger enthusiastisch mit dem befassten, was man in einer Schule eben so tut.
Das Mädchen fand ihre Freundin an einem der wenigen unbesetzten Tische. Sie hatte ihren Kopf auf den Schulranzen gelegt und die braunblonden Haare fielen über ihr Gesicht.
Louise setzte sich neben sie und starrte Nina an. "Hallo?" Keine Antwort. "Lebst du noch oder stirbst du schon?" Sie hörte ein undefinierbares Grunzen, aber Nina regte sich immer noch nicht.
Louise zog eine Braue hoch, zog ihre Wasserflasche hervor und stupste Nina damit in den Oberarm.
Ein verschlafenes, zerknittertes Gesicht erhob sich und Nina starrte ihre Freundin aus kleinen Augen an.
"Was'n?"
"Ich wollt nur sehen, ob du noch lebst", erwiderte diese und kramte ihr Pausenbrot hervor.
"Aha", brummte die andere und knallte ihren Kopf wieder auf den Ranzen. Louise schüttelte leicht den Kopf und wandte sich dann ihrem Brot zu. Sie hatten erst mal die kleine Pause, die fünfzehn wichtige Minuten dauerte, und danach zwei Freistunden. Das einzig gute, da sie nun in der Oberstufe waren, war, dass sie ziemlich viele Freistunden hatten. Die sie aber hauptsächlich mit Lernen, lernen und lernen verbrachten, weil daheim einfach keine Zeit mehr dafür war. Ach ja, und manchmal schlief man auch, um irgendwie in den darauf folgenden Unterrichtsstunden wach bleiben zu können. Man siehe sich nur mal Nina an.

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Während Louise ihr Pausenbrot verspeiste, beobachtete sie die Schüler in der Aula. Die Unterstufler setzten alles daran, von den wenigen Lehrern, die hier Patrouille liefen, nicht erwischt und nach draußen in den kalten Nebeltag verbannt zu werden. Die älteren gammelten gemütlich auf ihren Stühlen herum, flirteten, was das Zeug hielt, und plauderten in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Man verstand kaum mehr sein eigenes Wort, besonders wenn man das Glück hatte, neben einer Gruppe Fünftklässler zu sein, die nun doch von einem Lehrer entdeckt worden waren und maulend und meckernd nach draußen gingen.
Louise nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasch, verstaute alles in ihrem Rucksack und lehnte sich dann im Stuhl zurück.
"Hey, als nächstes haben wir zwei Freistunden", sagte sie und vernahm ein grummelndes: "Na super." aus Ninas Richtung.
Das Mädchen verzog das Gesicht. "Ein bisschen mehr Begeisterung könntest du dafür nicht aufbringen, oder?"
Keine Antwort.
Also langsam nervt's, dachte Louise.
"Haaaaallo!", rief sie über den Lärm hinweg und ein paar Schüler drehten sich neugierig zu ihr um.
Nina erhob sich, wedelte gekünstelt mit den Armen in der Luft rum - wobei sie fast die Menschen hinter sich erwischte - und machte ein pseudo-begeistertes "Wohoooo!" Dann verfiel sie zurück in ihre schlafähnliche Trance. "Besser so?", murmelte sie und schaffte es sogar, nicht wieder leblos auf ihren Schulranzen zu sinken.
"Och, joah. Schon mal ein ganz guter Anfang", meinte Louise und grinste ihre Freundin an. Diese schüttelte nur den Kopf und fuhr sich über das Gesicht. Louise fragte sich ernsthaft, wie lange Nina eigentlich geschlafen hatte. Vermutlich nicht sehr lang...

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"Hey, sollen wir zum Edeka laufen? Dann kannst du dir Schokolade kaufen, um wieder auf Vordermann zu kommen", schlug Louise vor und wusste schon, wie ihre Freundin reagieren würde. Diese hob bei dem Wort "Schokolade" augenblicklich den Kopf, bekam ganz große, glänzende Augen und nickte eifrig.
"Schoki", formte sie mit dem Mund und war bereits aufgestanden. Louise verkniff sich ein Lachen. Es war wie ein Zauberwort. Sagte man irgendetwas, das mit Schokolade in Verbindung gebracht werden konnte, hellte sich Ninas Stimmung schlagartig auf und sie war Feuer und Flamme. Nichts würde sie mehr daran hindern, ihre heiß geliebte Schokolade zu bekommen. Rein gar nichts.
Sie durchquerten die Aula, die noch immer voll war, und wurden draußen von einer ekligen Nebelsuppe empfangen. Man konnte kaum fünfzig Meter weit sehen. Es war, als würde der Nebel, in alle Poren dringen und die Geräusche der nahe gelegenen Straße verschlucken.
Unheimlich, dachte Louise und zog die Schultern hoch.
Nina jedoch schien gar nicht zu bemerken, dass es neblig war. Sie rannte fast den Weg zum Edeka hinunter und Louise hatte Schwierigkeiten, mit ihrer Freundin mitzuhalten. Als sie dann endlich den Laden erreicht hatten, schlug Nina schnurstracks den Weg zur Schoko-Abteilung ein, der sie wie ein Magnet anzog. Nina deckte sich mit Schoko-Keksen, Ritter-Sport und Schoko-Mikado-Stäben ein (Keine Ahnung, wie die Dinger heißen...). Louise begnügte sich mit einer Tafel dunkler Schokolade.
"Wenn du nicht aufpasst, wirst du fett von dem Zeug", prophezeite Louise ihrer Freundin, während sie den Weg zur Schule zurück gingen. Nina stopfte sich bereits mit Schoko-Keksen zu.
"Gar nicht", mampfte sie. "Ich muss später noch zum Bahnhof laufen, da krieg ich das wieder runter."
"Wenn du meinst", murmelte Louise als Antwort und sie setzten ihren Weg fort. In der Großen Aula war es noch immer laut und voll. Also stiegen sie die Treppe hinauf und wurden bitter enttäuscht, als ihr einziger Zufluchtsort hier an der Schule auch noch abgesperrt war.
Die Bibliothek.
"Ach, mennoooooo", meckerte Louise und wandte sich an Nina, die noch immer kaute. Mittlerweile war sie bei ihrer Ritter-Sport angelangt. "Was machen wir jetzt?"
Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern und schluckte. Gemeinsam sahen sie nach unten. Die Große Aula kam nicht in Frage: vollgestopft mit kleine, lärmenden Kindern.
Also quälten sie sich zur Kleinen Aula, die nur einen Gang entfernt lag. Auch diese schied aus: merkwürdige Streberkinder und Putzfrauen, die ihnen unheimliche Blicke zuwarfen, als wären sie die ersten menschlichen Wesen, die ihnen heute über den Weg gelaufen waren.
Schnell gingen sei weiter und dachten nach, wo sie ungestört ihre Schoki verspeisen und ungestört plaudern konnten.
Nachdem sie dann das gesamte Schulhaus durchkämmt hatten, stapften sie trübsinnig die Treppe zum zweiten Stock hinauf, in dem es kalt war und keine Menschenseele zu sehen war. Alles war staubig und alt.
"Wow." Ninas Stimme hallte in dem leeren Gang wider. "Man sollte echt meinen, eine so riesige Schule hätte irgendeinen Platz, wo man sich ausspannen könnte-eeeeee!" Ihr Satz ging in einem überraschten Schrei unter und dann hörte Louise neben sich ein Rumsen und einen Fluch.
Als sie sich umdrehte, brach sie in lautes Gelächter aus. Nina hing schief mit ihrer Schultasche an einer Türklinke, die Schoki noch in einer Hand, den Ordner in der anderen. Nur waren jetzt die ganzen Blätter auf mysteriöse Weise abhanden gekommen und lagen nun verstreut auf dem Boden.
"Schön, dass ich dich so amüsiere", maulte Nina, erhob sich schwerfällig und begann, ihre Blätter einzusammeln. Als Louise sich gefangen hatte, half sie ihrer Freundin und stand dann wieder auf.
"Speicheraufgang Nummer 16", las sie laut das blaue Schild neben der braunen Holztür vor. "Seit wann haben wir einen Speicheraufgang?"
"Keine Ahnung", grummelte Nina und stellte sich dann neben Louise. "Hört sich aber cool an."
Louise warf ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. Diese zuckte nur mit den Schultern und biss ein Stück ihrer Rittersport ab. Das andere Mädchen seufzte und sah den Gang auf und ab. Kein Mensch. Welcher normale Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hatte, kam auch zu dieser Zeit hier hoch?
Das heißt dann wohl, dass wir nicht mehr alle haben, oder?, grübelte Louise nach und zuckte ebenfalls mit den Schultern.
"Wenn wir schon mal da sind, können wir auch gleich gucken, was da so drin ist."
Und dann legte sie die Hand auf die Klinke. Sie hatte angenommen, dass die Tür verschlossen war, aber es machte ein lautes Klicken und die Tür schwang nach außen auf. Drinnen war eine weitere Tür in Grau. Auch diese war offen.
"Ey, coooool!" Nina ging an ihrer Freundin vorbei in den kleinen Raum. Louise folgte ihr dichtauf.

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