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Amanda stand auf ihrem Lieblingshocker vor ihrem Schrank und räumte ihre Sachen aus dem obersten Fach. IHRE Sachen, in der Tat gehörte alles um sie herum ihr selbst, und doch musste sie die geliebten Sachen aus ihrer eigenen Wohnung entfernen. Ihre eigene Wohnung? Die war es wohl schon nicht mehr, seit dem ihr der Mietvertrag gekündigt wurde. Kündigung wegen Eigenbedarf.
Amanda wusste erst gar nicht, was sie mit der so unerwartet eingetroffenen Nachricht in Form eines Briefs anfangen sollte. Erst ihr Nachbar Sven brachte sie auf den Boden der Tatsachen, als er ihr erklärte, dass sie wohl oder übel zum Anfang des nächsten Monats ausziehen müsse. Kündigung wegen Eigenbedarf? Amanda hatte davon noch nie gehöret und doch musste sie diese jetzt am eigenen Leib erfahren.
Hoch oben auf ihrem Hocker balancierte Amanda und streckte sich eifrig, um einen Blick in das oberste Fach zu werfen, schließlich war sie ja gerade mal 1,56m. Sie hatte schon mindestens zwei Jahre nicht mehr hier oben reingeschaut, schließlich befand sich auch nur belangloser und vor allem alter Kram dort. Doch was war das? Neben einem ungeliebten Teddy und ihrer alten Deckenlampe stand eine Kiste, ganz hinten in die Ecke geschoben. Von ihrem Blickwinkel konnte sie nicht erkenne, ob eventuell etwas oben auf dem Kistendeckel stünde, das auf den Inhalt hätte schließen lassen, doch eine Kiste aus braunem Karton war es auf jeden Fall, so viel konnte sie erkenne. Und diese Kiste hatte Amandas Interesse geweckt.

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Um diese zu erreichen musste Amanda allerdings erstmal ihren Hocker ein Stück verschieben, denn, so sehr sie sich auch streckte, sie war nicht aus Gummi und konnte sich nicht unendlich lang ausstrecken. Schließlich kletterte sie wieder auf den Hocker und erreichte die Kiste mit den Fingerspitzen. Sie packte fest zu und zog die Kiste zu sich herunter. Staub wirbelte auf und tanzte vor ihren Augen im Sonnenlicht, welches durch ein kleines dreieckiges Fenster hereinschien. Während sie einen Hustreiz unterdrückte, stellte sie die Kiste zu ihren Füßen ab. Ob sie erstmal alles von den Regalen herunter räumen sollte, oder gleich in der Kiste stöbern sollte? Eigentlich sollte sie weiter aufräumen, sie hatte es schon so lange vor sich hergeschoben, doch ihre Neugierde siegte. Schließlich konnte sie ja vielleicht noch etwas aus der Kiste gebrauchen, oder?
Also öffnete sie die Kiste vorsichtig. Sie war mit dicken Klebestreifen zugeklebt und als Amanda sie öffnete, rieselte ihr noch mehr Staub entgegen. Diesmal hustete Amanda wirklich, doch das hielt sie nicht auf. Als der Staub und ihr Husten sich beruhigt hatten, wagte sie einen Blick in die Kiste...

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Was war das? Aus dem Karton starrte sie ein Gesicht an. Nicht irgendein Gesicht, das Gesicht ihrer großen Liebe, das Gesicht von dem Mann, den sie sich immer gewünscht hatte zu treffen, den sie geplant hatte zu heiraten und von dem sie nie hätte erwartet, dass er sie dermaßen hintergehen können.
Ja, Amandas Ex hatte sie von Anfang an belogen, betrogen und hintergangen, davon war sie überzeugt, aber nicht nur das, er hatte sie auch zutiefst beleidigt.

Beim Anblick seines Gesichtes stockte ihr der Atem. Sie schluckte. In ihrem Kopf schien das Gesicht vor ihren Augen einen Deich, ja, einen ganzen Staudamm zum Brechen zu bringen, eine Flutwelle von Erinnerungen und Gedanken schoss aus den Tiefen ihres Gedächtnis an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Bilder von Rosensträußen und Herzluftballons, romantischen Sonnenuntergängen und Nachtspaziergängen flogen vor ihrem inneren Auge vorbei. Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase und verstärkte noch die Flut von Erinnerungen.
War das Einbildung? Amanda schnappte aus ihrem Tagtraum und senkte ihre Nase ganz nah über die Kiste, um daran zu schnuppern. Nein, das war keine Einbildung, der Geruch war so intensiv, dass er in ihrer Nase kitzelte. Verwirrt griff Amanda in die Kiste und zog einen Stapel Briefe unter dem Foto hervor.

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Sie hatte vergessen, wie viele Briefe sie sich geschrieben hatten. Als sie die Briefe aus dem Karton holte, fiel etwas zwischen den Briefumschlägen heraus. Als Amanda das kleine bunte Zettelchen aufhob, entpuppte es sich als Kinokarte. Sie las den Titel des Films: " Kein Ohrhase." Sofort erinnert sie sich an den Tag im Kino mit ihm. Dezember 2007. Sie waren abends im Kino gewesen. Es war dunkel und kalt gewesen und trotzdem hatte Amanda sich für ihn aufgetakelt. Sie hatte hohe Schuhe angezogen, in denen ihre kleinen Füße froren. Es lag noch kein Schnee, aber es war schon frostig und vor allem rutschig. Er hatte sie eingeladen, um ihr den "dunklen Winter zu versüßen", wie er es ausgedrückt hatte. Als er sie von zu Hause abgeholt hatte, mal wieder seine üblichen 7 Minuten zu spät, hing ein Lebkuchenherz um seinen Hals: -Ich liebe dich- stand darauf geschrieben. Er war noch auf dem Weihnachtsmarkt gewesen und hatte das Lebkuchenherz für sie besorgt. Amanda hatte sich sehr darüber gefreut, sie liebte solche kleinen Aufmerksamkeiten. " Mädchen eben.", hatte er immer gesagt. Sie seufzte. Das Lebkuchenherz hatte sie nie gegessen, sondern sorgfältig aufgehoben. Es hing immer an einem ihrer Schränke. Es musste auch in dieser Kiste liegen. Irgendwo. Sie kramte in der Kiste und fand es. Wie symbolisch hatten die oben liegenden Gegenstände es zerbrochen, doch es war ironisch, dass sie es ausgerechnet in zwei Hälften zerbrochen hatten, wie er ihr Herz. Sie holte tief Luft, dann fiel ihr Blick auf einen weiteren Gegenstand in der Kiste, der auf dem Lebkuchenherz gelegen hatte.

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Schnuffel. Sie nahm das kleine Stofftier und betrachtete es von allen Seiten. Die Stickerei erschien ihr nach wie vor amateurhaft und grob, schließlich war sie ja auch von ihrem Ex selbst an der gekauften Maus angebracht worden. Schnuffel? Ja, so war einer seiner vielen Kosenamen für sie, was wohl auch der Grund für ihn gewesen sein musste, sich mit Nadel und Faden hinzusetzen und "Schnuffel" auf den Rücken einer kleinen grauen Stoffmaus zu sticken. Damals hatte sie sich gefreut, auch wenn sie den Namen nie lieb gewonnen hatte, doch jetzt, wieder damit konfrontiert, ekelte er sie an. Wie konnte er sich erlauben, sie so zu nennen? Und dann auch noch eine kleine unschuldige Maus dafür durchlöchern? Amanda schüttelte den Kopf und warf das verunstaltete Tier in hohem Bogen in den Korb mit ungeliebten Sachen hinter sich.
Jetzt, wo sie recht nachdachte, konnte sie sich noch gut an den Tag erinnern, es musste ihr Sechsmonatiges gewesen sein, als er ihr Stolz sein "Werk" präsentierte. Süß war es ja schon - irgendwie, oder? Erneut schüttelte Amanda den Kopf. Nein, ihr Ex war nicht süß; er war fies und durchtrieben, und das waren nur die nettesten Worte. die ihr beim Gedanken an ihn einfielen.

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Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Verwirrt griff sie danach und antwortete: " Hallo?"
" Hey Amanda, wie läuft der Umzug?", fragte ihre beste Freundin Lisa.
" Ach hey, du bists.", seufzte Amanda, " Ja, läuft...unglaublich, was man so alles findet beim Umziehen."
"Oh ja, ich weiß genau, was du meinst, als ich den Keller von meiner Oma ausgeräumt habe, meine Güte, was ich da so alles gefunden habe...du weißt gar nicht, was sie alles aufgehoben hat..."
" Ich habe heute Schnuffel gefunden.", sagte sie bitter, "Erinnerst du dich, die olle Stoffmaus?"
Schweigen am anderen Ende der Leitung. " Aaaach die!" kam die plötzliche Erkenntnis. " Du hast sie doch hoffentlich weggeschmissen, oder?"
"Ich hab sie gerade gefunden, als du angerufen hast.", erwiderte Amanda ruhig.
" Wirf am besten alles weg. Ich fass es nicht, dass du das alles aufgehoben hast...wie lange ist es her?"
" Ja, ich hab nicht mehr dran gedacht.", murmelte Amanda, " Ich werfe es jetzt mit dem anderen Kram weg."
" Soll ich vorbei kommen?"
" Ne, brauchst du nicht...."
" Schon unterwegs. Ich bringe zwei Starbucks mit. Bis gleich." Aufgelegt. Weg war sie.
Amanda sah noch eine Weile schweigend auf ihr Display, dann widmete sie sich wieder der Kiste. Ihr Blick fiel auf eine Konzertkarte.
Red Hot Chilli Peppers.

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