Episode: Von St. Petersburg nach Lomonosov - Winter in Russland. Es sind 18 Grad unter Null. Seit 15:15 herrscht tiefste Nacht. Ein scheidender Wind weht durch die Häuserschluchten St. Petersburgs. Eine junge Frau steht an der Bushaltestelle nahe der U-Bahn-Station Prospekt Veteranov und wartet. Die vereiste Straße bietet nicht die besten Bedingungen für eine Fahrt nach Lomonosov, doch genau dort muss sie hin. Um Neujahr herum, wenn das gesamte Land zehn Tage lang im Feiertaumel liegt, ist es auf den Straßen im Oblast St. Petersburg besonders gefährlich. Die Witterung, die betrunkenen Autofahrer, ganz zu schweigen von den Marschrutka-Fahrern, die es noch eiliger zu haben scheinen als sonst. Endlich kommt der Bus. Es ist eine Marschrutka, ein umgebauter Kleinbus. Sie seufzt. Das bedeutet keine ernstzunehmende Heizung, unbequeme, enge Sitze und aller Wahrscheinlichkeit nach ein Fahrer, der so um die Kurven rast, dass einem davon kotzübel wird. Sie steigt ein, zusammen mit einigen anderen Fahrgästen. Die Marschrutka holpert los. Der Fahrer gibt schon in der ersten Kurve Vollgas wie ein Ralleyfahrer. Es gibt keinen Fahrplan. Je schneller er fährt, desto schneller ist er wieder zurück und kann die nächste Fuhre abholen. Je schneller er fährt, desto mehr bleibt für ihn übrig, nachdem er die Hälfte seines Rubelhaufens am Abend beim Eigentümer der Markschrutka abgeliefert hat. Währenddessen reichen die Passagiere Geldscheine nach vorne zum Fahrer, der, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, das Rückgeld aus seiner Bauchtasche kramt und nach hinten reicht. Er macht sich nicht die Mühe, Fahrscheine abzureißen und auszuteilen, es fragt auch keiner danach. Immer wieder muss er scharf bremsen. Die Leute, die vereinzelt mit erhobenem Arm am Straßenrand stehen und der Marschrutka zum Anhalten winken, kann er wegen der schlechten Beleuchtung erst im letzten Moment ausmachen. Je weiter sie die Großstadt hinter sich lassen, desto weniger Leute steigen zu. Mittlerweile sind fast alle Plätze besetzt.
Der letzte der Zugestiegenen nimmt neben der jungen Frau Platz. Sie drückt sich instinktiv fester an die Fensterscheibe und starrt in die schwarze Nacht hinaus. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass der Mann sein Gesicht in ihre Richtung gewandt hat. Er riecht leicht säuerlich und nach Alkohol, aber nicht mehr als die meisten Männer zu dieser Jahreszeit und um diese Tageszeit. Die Marschrutka hat Strelna erreicht und passiert den Palast, der von den Einwohnern Putinhof genannt wird. „Kak tebja zovut?“, fragt der Mann unvermittelt. Die junge Frau versteht die Frage nach ihrem Namen, doch sie wägt ihre Möglichkeiten ab. Schließlich antwortet sie, innerlich seufzend: „Maria“. Der Mann fährt auf Russisch fort. Er verwendet die gängige Koseform für ihren Namen, als wären sie alte Bekannte. „Na, Mascha, wo fährst du denn hin so allein?“ – „Nach Lomonosov.“ Er überhört den abweisenden Tonfall und fährt fort: „Na komm, unterhalten wir uns ein bisschen. Draußen ist es doch schon dunkel. Wir fahren hier gemeinsam, du und ich, da können wir einander ja ein bisschen kennen lernen.“ Er schnauft schwer beim Reden und dreht sich ihr zu, so gut es in den engen Sitzen geht. Sie spürt, wie sich sein Oberschenkel fester gegen den ihren drückt. Sie kann nicht weiter abrücken. „Was ist los, Maschenka, du redest nicht? Erzähl mir etwas von dir“, drängt der Mann weiter. Ihn zu ignorieren wäre unhöflich, also fragt sie kapitulierend: „Was soll ich denn erzählen?“ Er mustert sie mit plötzlicher Aufmerksamkeit. „Nanu, Maria, du bist aber nicht von hier. Woher kommst du?“ – „Aus Europa“, sagt sie, womit der Mann alles weiß, was er wissen will. Europa ist eine Bezeichnung für alles, was irgendwie besser ist. Zumindest in den Augen der leidgeprüften Russen. Europa ist dort, wo jeder zum achtzehnten Geburtstag eine Wohnung und ein Auto geschenkt bekommt, wo jeder zehnmal mehr verdient als in Russland, und wo noch immer der Irrglaube herrscht, die USA hätten irgendetwas zum Sieg über die Nazis beigetragen. „Warum kommst du dann hierher? Dir gefallen wohl die russischen Männer, was?“, grinst er und legt ihr die Hand auf’s Knie. Sein schlechter Atem kriecht ihr in die Nase. Sie blickt sich um. Niemand beachtet sie. „Fassen Sie mich nicht an“, sagt sie ruhig. Seine Hand bleibt liegen. „Sie sollen mich nicht anfassen!“, sagt sie nun schon lauter. Er grinst nur und leckt sich die Lippen. „Nehmen Sie Ihre Hand weg!“, schreit sie nun schon fast. Einige alte Babuschkas sehen die junge Frau missbilligend an. „Hände weg! Fassen Sie mich nicht an!“, übertönt sie nun jedes andere Geräusch in der Marschrutka. Der Mann runzelt verständnislos die Stirn, seine Hand schwebt unschlüssig in der Luft, dann legt er sie auf seinen eigenen Oberschenkel. „Aber reden können wir doch“, murmelt er. „Ich will nicht reden“, sagt sie. Der Mann spuckt auf den Boden und sagt gehässig: „In unser Land kommen, und sich dann so aufführen. Lern erst mal Russisch, bevor du dich hier aufspielst.“ - Er wendet sich ab. Für den Rest der Fahrt straft er sie mit Schweigen. So erreichen sie das stockdunkle Lomonosov.
Splitstories
-
Russland im Winter und Russland im Sommer. Zwei fast wahre Geschichten über das Busfahren.
demanding 1, informative 1, touching 1
Texts: 2, Images: 0, Authors: 1
+1 Activity: 1%, Views: 1475, Chars: 10466, 170 months ago