Mobile Version Disable hint

Es gibt viele Geschichten über die Mauer und deren Fall, jedoch ist sie aus meiner Sicht etwas besonderes, da ich sie aus Sicht eines Kindes erzähle, denn ich war damals erst 4 Jahre alt (geboren am 30.09.1985) und dennoch kann ich mich an vieles Erinnern, was damals geschah.

Alles begann damit, dass mein Onkel Stefan 1984 schon einen Ausreiseantrag stellte. Wie damals üblich durfte er auf deswegen nicht mehr weiter studieren, sondern musste sich mit einem Friedhofjob über Wasser halten. Als ich dann auf der Welt war, war ich total verrückt nach ihm, ich hatte schon mit 2 Jahren beschlossen, dass ich ihn heiraten will wenn ich groß bin.

Open

Als er im Juli 1989 nach Hannover ausreiste, war ich total verzweifelt, da auch mir bereits klar war, das ich ihn sobald nicht wieder sehen würde. Meine Familie und ich konnten ihn nicht besuchen und er uns auch nicht. Dass die Grenzen irgendwann offen sein würde konnten wir nicht ahnen. Meine Familie und ich hatten einige Zeit vorher schon einen ähnlichen Verlust erlitten. Meine Tante Bettina hatte im April 1980 einen Franzosen geheiratet und nach der Hochzeit musste sie sofort nach Frankreich ausreisen und ich fand es schrecklich, dass wir sie nicht einfach mal besuchen konnten. Was die Mauer wirklich bedeutet begriff ich, als im November 1987 mein Cousin Mathias das Licht der Welt erblickte. Als ich das hörte freute ich mich sehr, ich rannte in mein Zimmer, packte meinen kleinen Koffer, rannte zurück in den Flur und schnappte mir meine Jacke und meine Schuhe. Meine Eltern fragten mich, wo ich denn hin wolle und ich antwortete ihnen ganz selbstverständlich, dass ich natürlich nach Paris will und das Baby besuchen möchte. Meine Eltern lächelten und versuchten mir zu erklären, dass dies wegen der Mauer unmöglich war, da wir weder eine Ausreisegenehmigung noch sonstige Papiere hatten. Ich war fassungslos und konnte nicht verstehen, warum da jemand einfach eine Mauer hinstellt und mir verbieten will, meine Familie zu sehen. Das schlimmste war aber, das auch meine Oma nicht zu ihrer Tochter und zu ihrem Enkel fahren durfte, da die Geburt eines Enkelkindes nicht als wichtig genug galt um die DDR zu verlassen um Paris zu besuchen.

Open

Meine Familie erfuhr es, weil Onkel Stefan meine Oma anrief und ihr erzählte, das er im Fernsehen sah, dass alle einfach so durch die Grenze fuhren und er wollte, das wir alle sofort zu ihm nach Hannover kommen sollten. Meine Oma rief ihre Schwiegertochter, meine Mutter an und meine Mutter war von der Idee gleich begeistert, mit Tränen in den Augen rief sie meinen Vater im Krankenhaus an, wo er als Arzt arbeitete und gerade mitten im Dienst war. Meine Mutter überfiel ihn mit dem Plan sofort nach Hannover zu fahren, sobald dieser am nächsten Morgen aus dem Dienst kam. Meine Mutter redete ohne Punkt und Komma auf ihn ein und als sie endlich fertig erzählt hatte, zerstreute sie auch gleich noch die Bedenken meines Vaters, der sich nicht ganz wohl fühlte mit dem Gedanken einfach so ohne Pass und ohne gültige Ausreisevisum loszufahren. Mein Vater sah sich sicher schon in Handschellen mit einem Gewehr im Nacken an der Grenze stehen, doch meine Mutter erzählte ihm noch einmal, das sie im Fernsehen auch sah, dass alle einfach durch konnten. Ich selbst verstand die Welt nicht mehr. Erst konnten wir nicht zur Familie fahren und dann sagte irgend so ein Mann: „Grenze auf“ und plötzlich konnten wir? Das war ja fast wie in Alibaba und die 40 Räuber, der sagte: „Sesam öffne dich“.
Mein Vater lies sich überreden und damit war für meine Mutter das Problem aus der Welt. Meine Oma überredete inzwischen meinen Opa, da dieser uns mit seinem Auto fahren sollte. Was das für eine Diskussion war weiß ich nicht, aber sie schaffte es, sich durchzusetzen. Als mein Vater am nächsten Morgen gegen 7 Uhr nach Hause kam, packten sie schnell noch ein paar Sachen und schon gingen wir zu Oma und Opa. Ich war schrecklich aufgeregt und voller Vorfreude endlich meinen Onkel wieder zu sehen. So begann am 10. November 1989 um 9 Uhr morgens unsere Reise. Jedoch hatten nicht nur wir diese Idee gehabt, wie wir bald feststellen sollten, sondern nach dem Anblick der Masse nach zu urteilen, jeder einzelner DDR-Bürger. Einen solchen Menschenauflauf hatte ich noch nie gesehen. Wir kamen noch nicht mal auf die Autobahn, schon vor der Auffahrt war ein gigantischer Stau. Am Horizont konnten wir die Autobahn sehen, doch wir kamen einfach nicht drauf. Mein Vater war auf 180, er stieg aus und ging auf dem Acker neben uns spazieren um Stress abzubauen und da er mich dabei nicht mitnahm, denke ich dass er mächtig geflucht hat. Es dauerte Stunden, bis wir den Grenzübergang bei Helmstedt erreichten und meine Familie war ziemlich gestresst, die Stimmung zum reißen gespannt, doch meine Oma und ich ließen uns nicht anstecken und wir alberten rum und hatten Spaß. So kurz vor der Grenze waren meine Eltern und meine Großeltern schrecklich aufgeregt, da dort noch vor 48 Stunden alles und jeder bis auf den letzten Millimeter untersucht und kontrolliert wurde, doch zum Erstaunen aller, stand dort niemand, alle konnten einfach durchfahren. Als wir gerade an den Grenzbaracken waren, wurde meiner Mutter auf einmal durch die Aufregung schlecht. Meine Oma gab ihr schnell eine Plastetüte und meine Mutter… . Mein Vater, mal wieder sehr sensibel meinte dazu nur: „Mensch Petra, das ist doch nicht dein Ernst, kannst du dich nicht zusammen nehmen, gerade hier an der Grenze, was wenn jetzt jemand kommt?“ Natürlich kam niemand und wir konnten weiterfahren, nachdem die Tüte entsorgt war. Jetzt waren wir alle überzeugt ungehindert nach Hannover zu kommen. Onkel Stefan und seine Freundin Luise freuten sich sehr auf uns und wollten uns natürlich auch bewirten. Beide rechneten damit, dass wir vermutlich um die 5 Stunden brauchen würden und da es keine Handys gab, konnten wir zwischendurch nicht Bescheid geben, wo wir waren. Sie machten für uns Mittagessen und räumten es wieder weg und ebenso erging es ihnen mit dem Kaffee und dem Abendessen. Für mich mit meinen 4 Jahren, war es eine sehr lange Reise, aber ich freute mich so sehr, dass ich mich sehr ruhig verhielt und alles gut überstand.

Open

Nach insgesamt 20 Stunden Fahrt, standen wir am Sonntag 5 Uhr früh, endlich vor der Wohnung meines Onkels und konnten klingeln. Wir fielen uns weinend in die Arme und obwohl wir fix und fertig waren, waren wir glücklich, die Angst ihn nie wieder zu sehen, wich von uns. Mein Onkel hatte für uns alle Luftmatratzen und Schlafsäcke bereit gestellt und wir schliefen alle mit einem Lächeln ein. Nach ein paar Stunden Schlaf, erzählten wir bei einem tollen Frühstück von unserer Fahrt und auch sonst von unseren Leben, z.B. dass ich inzwischen schon schwimmen konnte, worauf ich mächtig stolz war. Nach dem Frühstück gingen wir in die Stadt und ich war überwältigt. Es gab so unglaublich viele Läden, man konnte alles kaufen was man wollte. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus.

Open

Splitstories