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Die Sonntage sind wohl, oberflächlich gesehen, die regelmässigsten Tage in Spunks Leben.
Der einzige Tag an dem Spunk ausschlafen kann. Auch so ein Tag, an dem sie neben einem Mann sitzt, der es offenbar nicht für langweilig empfindet TV zu schauen in einem Café –und das ohne Ton. Er trinkt sein Bier sehr langsam, sitzt da und sieht wie ein herzensguter Mensch aus. Er sitzt und schaut fern. (Jetzt hat er sich eine Zigarette angezündet. Eigentlich kommt er Spunk wie ein Kaltblütler vor, so eine Art Reptil im Zoo, ein Chamäleon, das sich kaum bewegt und plötzlich dann doch den Kopf dreht und man staunt, als hätte man soeben gesehen, wie sich der Stundenzeiger exakt auf die Zahl rückte.)
Am heutigen Sonntag schneit es. Fette Schneeflocken fallen aus der Nacht. Es ist leiser als sonst in der Stadt. Spunk hat die Rosen im Garten nicht geschnitten, als es noch möglich war. Hoch prangen sie und magnetisieren den Schnee. Spunk macht sich ziemlich Sorgen um die Rosen. Die Katzen bleiben bei dem Wetter auch nicht lange draussen. Lulu geht einige Stunden raus, springt dann aber bald auf das Fenstersims im Esszimmer und ruft. Hypnotisiert fast die Menschen mit ihren Linsenaugen. Die Kleine, darf noch nicht raus. Gianna Nannini. Ein spanisches Paar am Tisch nebenan. Sie unterhalten sich rege. Gianna Nannini, die jetzt schwanger ist. Heute Babykleider sortiert und entsorgt. Nur Spunk fällt es schwer sich von den Dingen zu trennen. Beim karierten Baumwollhemd, Grösse 98, das alt ist und verblasst und, ja einfach verwaschen, da kribbelt es Spunk in den Handflächen, wenn sie es hält: Wie könnte sie es wegwerfen? Verschenken geht nicht. Wem könnte sie einen Lumpen schenken? Das Hemd stand ihrem Sohn so gut, Es passte zu seinen blauen Augen und es war genau die richtige Oberbekleidung für Sommerabende am Meer. Damals waren sie, Spunk und das Kind, am Meer. Ganz alleine hat sie mit dem kleinen Jungen den Zug nach Triest bestiegen.
Bern, Milano, Triest.
Die Reise dauerte den ganzen Tag. Immer wieder ärgerte sich Spunk in Mailand, dass die Zugverbindungen, die Auskunft über Lautsprecher, robotisiert und unverständlich ist. Im Zug hatte der Junge richtig abgeräumt. Es gab kaum jemanden, der das Kind nicht süss fand und ihm nicht etwas Kleines zu essen gab. Es war die Phase, als er sicherer und sicherer auf den Beinen wurde. Der Kleine spazierte durch den Wagonkorridor und erfreute sich an seinem Erfolg. In Triest, als Spunk, Jan im Kinderwagen, auf Onkel Franjo warteten, der sie abholen kommen sollte, da weinte das Kind plötzlich. Spunk hob ihn aus dem Wägelchen, wobei der Junge eine Lawine von Erbrochenem ausspuckte. Da stand Spunk –voll gekotzt. Dem Kind ging es besser, aber die Flüssigkeit war überall. Spunks Kleider waren nass, an der Brille klebten Tröpfchen, der Rucksack, die Provianttasche, der Kinderwagen waren von der Lawine betroffen.
Da stand Spunk auf dem Hauptbahnhof Triest. Der helle Marmorboden, gesprenkelt. Onkel Franjo parkierte und Spunk rupfte Feuchttüchlein für Feuchttüchlein aus der Pampers-Plastik-Box. Spunk liess Jan bei Onkel Franjo und ging auf die öffentliche Toilette, um sich umzuziehen. Spunk wusch sich dort, stopfte die Kleider in eine Plastik-Tasche und kehrte zurück. Onkel Franjo war sehr verständnisvoll. Spunk legte Frotté-Tücher auf den Autohintersitz. Für den Fall. Das Gepäck im Kofferraum. Der Caddy zusammengeklappt. Jan Freude am Autofahren.
Sie fuhren über die Grenze nach Slowenien. Es war eine Strecke, die Spunk auswendig kannte. Die mediterranen Häuser, die kleinen Häfen, die Kurven, die Grenze, dann die Hochhäuser, mit dem Grill-Restaurant, Gestein, weisse steinige Hügel, die verlotterten Plattenbauten, das Meer. Die Streifen am Himmel, die weissen, und die Schiffe in der Ferne.
Die Einfahrt in den Touristenort Ankaran, den Hügel hinauf, die Pizzeria im Wohngebiet, das Parkieren vor dem Haus unter der Pergola. Weisse Traubensorte. Und dann kam der kleine Hund Beni. Eine Strassenmischung mit langen weissen Zotteln.

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Aller Schnee ist geschmolzen. Es wurde wärmer, dann regnete es drein. Spunks Schuhe waren nass und trockneten eine ganze Nacht unter der Heizung. Spunk hatte nach Jahren ihre Therapeutin aufgesucht. Die erste Bestandesaufnahme war ernüchternd und tröstend. Ein Rezept für ein Schlafmittel. Spunk hatte es damals beim Abschluss des Studiums genommen. Jetzt hatte Spunk etwas, das sie in den Schlaf wiegen würde.
Spunk sass, wie jeden Sonntag, im selben Lokal. Der gleiche Kellner. Sport im Fernseher. Musik aus dem Film Flashdance. Zwei junge Frauen, die sich über ihre Beziehungen unterhalten. Spunk hört gerne zu und staunt über die detailgetreue der Erzählungen. Telefongespräche werden präzis miteinander erörtert, die Sms werden gezeigt. Es scheint, dass nichts ausgelassen wird. Freundschaft.
Die Worte der Therapeutin hallten nach: „Frau Spunk, Sie sind sehr stark traumatisiert worden.“ Traumatisiert. Es ist unwirklich. Wenn Spunk sich verliert, wenn sie sich verrennt, wenn sie in eine Sackgasse landet und das Umfeld darauf reagiert, kann Spunk nicht sagen: Weißt du, ich kann nichts dafür, ich bin als Kind sehr stark traumatisiert worden. Nichts ist da und doch ist etwas da. Etwas, das bremst und weglockt. Etwas, das zerstört und niederdrückt. Etwas Schweres und Finsteres. Blei in den Schuhen. Ist es aber möglich, dass diese Erlebnisse, so sehr unser Leben prägen? Ist es möglich, dass man, dass Spunk keine Wahl hat und damit leben muss? Frage: Wie damit umgehen? Spunks Bruder sagte: „Auch mich beschäftigt es immer wieder. Ich weiss nicht warum. Ich versuche es zu verdrängen und schaffe es auch, aber kaum entspanne ich mich, kehrt alles wieder zurück. Ich weiss nicht, warum mich das alles so beschäftigt.“ Spunk denkt jetzt im Lokal: Ist es also doch real? Der Bruder empfindet gleich. Auch seine Gedanken sind damit besetzt.
Was ist mit Thomas Bernhard und seinen Hass auf seine Familie? Bernhard könnte hier sitzen an der Bar und rauchen. Bernhard könnte auch hier sein.
Es bleibt aber unwirklich.
Wie leben die anderen Menschen damit?
Diese vielen Menschen in den Städten.
Beth. Spunk hatte einmal eine Schwester, die Beth hiess. Lange Zeit wusste Spunk nicht, dass sie ihr am nächsten stand. Spunk wusste auch nicht, wie nah sie Beth selbst stand. Die Therapeutin sagte: „Sie wissen, dass Sie dissoziieren. Meiden Sie solche Momente. Gehen sie sofort da raus.“ Sie fragte: „Wenn sie unter Alkohol schreiben, können sie dann zusammenhängend schreiben?“
Beth war Spunk sehr ähnlich. Spunk war Beth sehr ähnlich. Nein, Spunk schreibt nicht zusammenhängend. Nein, Spunks Gedanken springen. Nein, Spunk hat keine Verbindung zu nichts. Keine Anhaltspunkte. Spunk routiert.
Die Hauptrolltreppe in Zürich zum Beispiel. Da sind diese Treppen, die zu den Gleisen 1-18 hinaufführen, die zur Bahnhofshalle führen, dort wo der Arbeitslosenzeitungsverkäufer steht, der Tages -Anzeiger- Verteiler steht. Dort kam einmal Beths Vater Jan Spunk entgegen. Er breitete seine Arme aus und sagte: „Look what I found.“ Das ist die zärtliche ‚Look what I found’ –Treppe.
Sollte Spunk die Treppe meiden? Ist es nicht eine schöne Erinnerung, die man genüsslich immer wieder durchleben könnte? Sie könnte es sein, aber sie ist es nicht. Auf diesen Treppen lebt ein Geist. Dort wartet er auf Spunk.

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