Agram, so breit wie hoch, musterte den Brief mißtrauisch, während er sein Abendessen, ein Grottenolmragout mit Steinpilzen, löffelte.
Als Grumpelbart Graubein heute morgen in aller Früh vorbeigekommen war, hatte Agram bereits ein untrügliches Gefühl in der Magengegend verspürt, daß der Postmeister des Minenaußenpostens keine guten Nachrichten bringen würde!
Und tatsächlich: Zwei überfällige Rechnungen vom überteuerten Schmied im Nachbarschacht, eine unverschämte Steuerforderung vom königlichen Steuereintreiber und die parfümierte Werbebroschüre irgendeines frechen Immoblienhais – natürlich ein Elf!
Die Arbeit rief und der Brief war schnell vergessen.
Nach dem Abendessen genehmigte Agram sich erst einmal zwei Krüge Metwein, um runterzukommen. Dann fiel sein Blick wieder auf die mysteriöse Nachricht, er kratzte sich am Kopf und öffnete den Brief augenrollend.
„Verdammte Magier“, zögernd holte er aus dem Kuvert ein unscheinbares Puzzlestück hervor, dann überflog der Zwerg die Einladung zur geheime Eiche.
„Von wegen geheim, der morsche Baumstumpf steht in jedem Reiseführer. Verdammte Magier! Müssen immer übertreiben.“
Kopfschüttelnd mustert Agram seinen Wochenarbeitsplan. Eigentlich wäre morgen eine Grabung am Kupferzahnstollen angesetzt, aber ihm standen noch einige Urlaubstage zu. Und die mußte er vor Ende des Jahres einlösen, ansonsten verfielen sie.
„Also gut, warum eigentlich nicht? Der König bekommt vielleicht meine Steuern, aber nicht meine Urlaubstage!“, dachte er laut vor sich hin. „Morgen geht’s raus aus dem Berg, aber wehe mir läuft einer dieser geschniegelten Spitzohren über den Weg. Verdammte Ökos!“
''Die geheime Eiche'' war eine etwas außergewöhnliche Eiche inmitten eines Waldes, der etwa einen halben Tagesmarsch von seiner Mine entfernt lag. Das außergewöhnliche an ihr war bloß, dass sie ein bisschen dunkler war, als die anderen Bäume, vor allem anderen Eichen, um sie herum. Agram hatte das allerdings nie sonderlich interessiert. Schließlich war er ein Zwerg. Er interessierte sich nicht für die Natur, mehr für Stein, am besten Edelstein oder Gold, Schätze inmitten des Erdreichs. Ein Wald? Der war zum Fällen dar, um Holz zu gewinnen, um zu verbrennen und Fackeln herzustellen. Er verstand nicht, wieso diese Elfenprinzesschen immer darauf beharrten, den Wald unberührt zu lassen. "Die Natur ist unser Freund", pflegten sie zu sagen. Pah! Agrams Freunde hatten für gewöhnlich keine Wurzeln und waren erst recht nicht grün.
Auf dem Weg zur Eiche fragte er sich wieder, was er sich nur dabei gedacht hatte. Er hasste Magisches und misstraute Magiern...wieso folgte er dann dem Ruf eines Magiers? Während er so vor sich hin dachte, hörte er in der Ferne Hufgetrappelt und ehe er sich versah, erblickte er aus dem Augenwinkel ein weißes Pferd und eine helle Stimme sprach zu ihm: "Was bewegt einen Zwerg dazu, aus seinem Höhlenloch herauszukriechen?" Langsam wandte Agram sich um.
Auf seinen schweren Hammer gestützt – Werkzeug und Waffe zugleich – musterte er die schlanke Gestalt auf ihrem strahlenden Schimmel. Das Sonnenlicht fing sich in der langen, weißen Mähne, beinahe glaubte Agram einen Goldregen auf den weichen Waldboden herabregen zu sehen.
Kein Zweifel: Ein majestätisches Tier. Aber auf dem Pferd saß ein Elf.
Auch das noch.
Mann oder Frau?
ER legte den Kopf schief und musterte die Gestalt.
Schwer zu sagen, bei Elfen gab es da wenig Unterschiede, wie Agram mit zusammengekniffenen Augen dachte. Beide waren so sauber geschniegelt und gestriegelt wie das hohe Roß auf dem sie zumeist saßen.
Dennoch entschloß er sich seine freundliche Seite herauszukehren oder zumindest eine weniger mürrische. Immerhin waren die beiden – Pferd und Reiter – schön anzuschauen und das wärmende Sonnenlicht inmitten der unberührten Natur weckte so etwas wie Urlaubsstimmung in seinem edelsteinernen Herzen.
„Seid gegrüßt. Ich bin nur etwas frische Luft schnappen. Hat mir mein Arzt verordnet, der alte Quacksalber. Und ihr? Der tägliche Ausritt, wie ich annehme?“
Der Elf lächelte, was seine feinen Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen, schmalem Kinn, umrahmt von silbernem Haar, zusätzlich betonte.
„Dies sind die Wälder und Auen meines Volkes. Liebevoll und bestimmt sorgen wir für ihren Erhalt angesichts mannigfaltiger Bedrohungen“, erklärte er freundlich aber wachsam.
Agram überlegte kurz was er wohl zu hören bekommen hätte, wäre er mit einer Axt statt des Hammers angerückt. So wenig wie er selbst Fremde in seinem Bergwerksstollen begrüßte, sahen es Elfen gerne, wenn sich jemand in ihren Wäldern breit machte. Zumindest hatte er das gehört.
„Habt ihr ein bestimmtes Ziel?“, fragte Agram schließlich, „nördlich von hier soll es ja ein hübsches Eichenwäldchen geben.“
„Ja, da habt ihr Recht. Im Herzen des Hains steht eine besonders große majestätische Eiche, genannt die ‚geheime’.“
„So geheim kann die ja dann nicht sein, oder?“
„Nein, nicht wirklich“, lachte der Elf. „Ich bin heute auf dem Weg dorthin.“
Seine kristallblauen Augen, strahlender als jeder Saphir, musterten Agram durchdringend.
"Auf dem Weg...zur...Eiche...", wiederholte Agram und schluckte. Was führte einen Elfen an die Eiche? Derselbe Ruf des Magiers, dem auch Agram folgte?
"Gewiss.", lächelte der Elf, "Ist es ungewöhnlich?"
"Nun, sicherlich nicht. Verwunderlich, für Jemanden wie mich, der nicht viel im Wald herum wandelt.", brummte Agram, dann kam ihm eine Idee, "Ihr habt allerdings meine Neugier erweckt, diese Eiche würde ich doch auch einmal zu gerne in Augenschein nehmen. Dürfte ich Euch begleiten?"
"Wenn ihr mit meinem Pferd Schritt halten könnt.", scherzte der Elf, wurde dann aber wieder ernst, als sein Pferd gemächlich voranschritt, "Nun gut, ihr mögt mich gerne begleiten, allerdings nur unter der Vorraussetzung, dass die Eiche nicht gefällt wird."
"Sehe ich so aus, als trüge ich eine Axt bei mir?", erkundigte sich Agram mit unschuldiger Mine. Obwohl er jedoch zugeben musste, dass er bereits bei der Einladung an diesen seltsamen Ort überlegt hatte, ob das Holz der geheimen Eiche wohl kostbarer oder stärker sei, als gewöhnliches Eichenholz. Da Agram seine Neugier nicht im Zaun halten konnte, fragte er also:
"Was ist so besonders, an dieser geheimen Eiche? Unterscheidet sie sich wesentlich von den übrigen Eichen? Oder ist es lediglich die dunklere Farbe?"
Der Elf schien überrascht. "Erstaunlich, dass diese Besonderheit ins Erdenreich durchgedrungen ist. Nun, die Eiche ist besonders, wie jede Eiche in diesem Wald. Jede von ihnen ist einzigartig und trägt den Geist der Natur..." doch weiter hörte Agram gar nicht zu. Geist der Natur? Einzigartig? Für Agram zählte bloß das Holz.
Eine Weile lief, ja hastete er fast, schweigend neben dem Pferd des Elfen her, als schließlich der Elf, wie beiläufig, sprach: "Habt ihr vom Tod des berühmten Magiers gehört?"
Agram zuckte zusammen. Ahnte sein Begleiter etwas?