In der folgenden Nacht findet Lukas keinen Schlaf. Ruhelos wälzt er sich in seinem Bett von Seite zu Seite.
Tausend Gedanken schwirren durch seinen Kopf. Hat er wirklich gehört, was er jetzt denkt? Interpretiert er zu viel in ein paar Wortfetzen hinein, die er nur im vorbeigehen aufgeschnappte?
Zäh zählt seine Digitaluhr am Kopfende des Bettes die Stunden herunter.
Gegen sechs Uhr hat Lukas die Nase voll. Müde, aber entschlossen steht er auf, zu früh, um etwas Vernünftiges zu tun, aber er weiß, es macht keinen Sinn mehr sich weiter im Bett herumzuquälen.
Einigen Runden im Schloßgarten werden seinen Kopf sicher frei machen.
Sein Weg führt ihn an Absperrungen vorbei. Die Baustelle wächst und wächst, trotz des vermeintlichen Stillhalteabkommens während der Mediation. Vereinzelte Polizisten patrouillieren an den Gitterzäunen, einige Demonstranten auf Nachtwache beobachten argwöhnisch jede Veränderung dahinter.
Als Lukas zu seiner kleinen Unterkunft zurückkehrt, zieht er die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Ein Brief fällt zu Boden.
Auf dem Kuvert stehen weder Absender noch Empfänger.
Mit einem Stirnrunzeln hebt er den Brief auf und schließt seine Wohnungstür auf.
Während Lukas das Licht im dunklen Eingang anknippst, öffnet er den Brief. Er ist froh über jede Art von Ablenkung. Die Schrift ist krakelig, wie schnell geschrieben, aber der Schreiber scheint fest aufgedrückt zu haben, denn die Schrift ist dick und tiefschwarz und bildet so einen Kontrast zu dem weißen Blatt Untergrund aus Papier. Er weiß nicht genau, wieso er sich an solchen Details aufhängt, vielleicht, weil es beim Mantel ausziehen schwer ist, ordentlich zu lesen, doch irgendwie fällt ihm die Schrift auf.
Schließlich, nach dem er die Schuhe von sich getreten hat, überfliegt er die eine Zeile. Er überfliegt sie wieder. Immer wieder. Wieder. Wieder.
"Seien Sie bitte morgen früh um 10:00 Uhr im Raum A104. Ich erwarte Sie."
Müde schleppt Lukas sich durch den Tag.
Der fehlende Schlaf und die mysteriöse Nachricht zehren an seinen Nerven. Schnell verliert er jeden Bezug zur Realität: Hinter jeder Ecke lauern jetzt mißtrauische Blicke, ihm scheint, als ob er den ganzen Tag über unter Beobachtung steht. Paranoia? Verfolgungswahn? Intuition?
Er selbst fühlt sich gefangen in einem Spinnennetz höherer Mächte. Eine unbedarfte Fliege, ein zufälliges Staubkorb, welches die gut geschmierten Seilschaften aus der Balance bringt. Wie Treibsand ziehen die Stunden an ihm vorbei, er selbst ist Sand im Getriebe der Mächtigen.
Hat er zu viel gesehen, zu viel gehört? Soll er mit seinem Chef sprechen? Als Praktikant gilt sein Wort nichts, aber Dr. Kreutzer ist jovial und aufgeschlossen, ein moderner Parlamentarier. Vielleicht…?
Nein, entscheidet Lukas, erst einmal will er das Treffen am nächsten Tag abwarten.
Was soll schon passieren? Immerhin arbeitet er in einem Landtag, mitten in Herzen Europas und nicht irgendwo am Arsch der Welt. Ja, in anderen Weltregionen würde er einfach verschwinden, aber hier gab es zumindest einen höflich formulierte Einladung zum Brunch…
Die Nacht verbringt Lukas angespannt und hellwach, bis ihn die Müdigkeit überwältigt und er in einen tiefen, unruhigen Schlaf verfällt.
"Nein! Bitte nicht!"
Dr. Kreutzer lächelt. "Wieso nicht?"
"Warum? Was hab ich getan?"
Dr. Kreutzer lächelt nicht mehr. "Wie bitte? Was glauben Sie denn, mit wem Sie es hier zu tun haben, sie kleiner, mieser Praktikant, Sie? Mischen sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen und wundern Sich, wenn Sie daraus die Konsequenzen tragen müssen."
"Aber ich habe doch nur..."
"Halten Sie Ihren Mund. Stehen Sie ,lieber langsam auf."
"Lukas. Lukas!"
"Ja, was ist denn?"
"Steh auf Junge! Beeil dich! Dr. Kreutzer hat angerufen und fragt wo du bleibst!"