Teil meiner gesammelten Erlebnisse bei der Betreuung einer Alzheimer- Patientin
Marie?
Marie bist du schon fertig?
Bisher hat es mit dem alleinigen Toilettengang immer noch geklappt. Doch gut, dass ich nachschaue. Marie ist dabei und wickelt das Klopapier von der Rolle. -
Dies erinnert an kleine Kinder, nur wenn Erwachsene so etwas tun verliert sich das Lächeln und man schüttelt den Kopf. Wie oft hat man in jungen Jahren Witze gemacht: Wie hieß er gleich wieder, der Herr Alzheimer mit Vornamen? Na siehst du, so fängt es an, war die blöde Antwort und man konnte kichern. Oder wenn man bemerkte, daß die eigene Vergeßlichkeit zunahm, fiel unmittelbar gedankenlos der Satz: Ich glaube ich habe Alzheimer.
Weiß man von dieser Krankheit, die nach ihrem Entdecker Alois Alzheimer benannt wurde, mehr als nur den Namen, dann denkt man anders und hat mehr Verständnis. -
Marie versucht mit der Toilettenpapierschlange den Boden auf zu wischen. Ich helfe ihr beim Aufstehen. Sie steht da wie ein begossener Pudel, ihre Jeans ist tropfnass. Ich spreche sie ganz ruhig an: "Wir bringen das wieder in Ordnung". Wie ist das jetzt passiert, denke ich. Dabei half ich ihr doch den Hosenknopf zu öffnen, als ich merkte wie schwer dieser aufging. Scheinbar hat sie ihn wieder geschlossen, weil sie nicht mehr wusste, dass sie musste. Nun ich werde zukünftig besser aufpassen und ihr die Hose gleich herunterziehen und bei ihr bleiben bis sie fertig ist.-
Kaum umgezogen, möchte Marie spazierengehen, sie zieht ihre Schuhe alleine an. Wir sind kaum eine halbe Stunde unterwegs, da läuft sie instinktiv zurück nach Hause. Sie setzt sich auf den unteren Treppenabsatz, ich öffne ihr beide Doppelknoten - bis ich mich recht versehe bindet sie die Schuhbänder wieder zu.
Ähnliche Szene. Zum Schuhe anziehen setzt sich Marie wie gewohnt, im Windfang auf die dritte Stufe des inneren Haustreppenabsatzes. Doch sie bleibt nicht hocken, sie rutscht rückwärts immer höher. "Bleib doch bitte da Marie", sagt etwas genervt ihr Ehemann. Er pflegt seine Frau und ist leicht überfordert. Es ist sehr schwer für ihn zu verstehen, dass seine Frau nicht mehr so ist wie früher. Zu zweit helfen wir ihr dann in den Schuh. Am besten mit Humor nehmen. Ob Marie noch lachen kann? -
Ach was habe ich mit ihr gesungen, ich kann nicht singen, doch auf weiter Flur hört es ja Keiner und sie reißt mich immer wieder heraus und übertönt mich, denn singen kann sie, das muß man ihr lassen. Abends im Bett hatte ich noch Maries Maja- Lied als Ohrwurm im Kopf "....und diese eine Biene die ich meine nennt sich Ma-ja- immer wieder Maja" -
Einmal wurde sie zu mir gebracht und wir gingen in unserem Dorf spazieren. Es standen ein paar Nachbarn zusammen, die Marie nicht kannten. Und da war gleich zu erkennen, wer Verständnis für sie hatte und wer nicht. Während zwei Frauen dumm aus der Wäsche schauten (eine mehr als die andere) weil Marie ihr Lied anstimmte, sang der nette Nachbar einfach und lautstark mit. Er erklärte anschließend, dass bei ihm zu Hause auch immer gerne gesungen wurde. Da lachte Marie.-
Wir spielen zu zweit Mensch ärgere dich nicht.
Manchmal habe ich den Eindruck Marie foppt mich ein bisschen. Beginnend mit dem Ritual der Farbwahl, denn sie nimmt immer die roten Spielfiguren mit den Worten "Rot ist die Liebe". So nehme ich grün, wie immer. Doch heute läuft es nicht richtig, denn Marie kann die Farben nicht richtig unterscheiden. Deshalb wechsele ich auf gelb. Es geht los: Bei 6 darf man ins Spiel, das sitzt noch und man darf noch einmal würfen, das geht automatisch. Und ganz dumm ist Marie nicht, denn fällt eine 1, da gibt sie sich nicht zufrieden mit und würfelt weiter, trotz meinem Stopp. (Man darf die Spielerei halt nicht zu eng sehen) Marie gewinnt immer! Manchmal geht sie mit ihren Figuren rückwärts, manchmal nimmt sie die direkte Abkürzung ins Ziel. Was soll´s? Es ist was es ist: Beschäftigungstherapie!
Manchmal macht man kleine Fehler und beunruhigt somit unnötig den Patienten. So erging es mir, als ich während des Kartenspiels mit Marie kurz zum Fenster blickte. Da saß ein riesengroßer dunkler Käfer am Fenster. "Ach du Schreck" entfuhr es mir. Ich stand auf und sah mir das "Untier" aus unmittelbarer Nähe an, eigentlich war es sehr schön. Es klebte draussen an der Scheibe. Marie bekam es mit und wirkte betroffen. Mit kurzen Blickkontakt erklärte ich Marie, der tut uns nichts, er sitzt draussen. Sie verstand es wahrscheinlich nicht. So sagte ich nur zu ihr: "Das ist nur Karl der Käfer" Marie sah mich mit großen Augen fast fragend an. "Kennst du Karl den Käfer nicht, Marie?"
Da kam prompt von ihr eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet hatte: "Nein - der hat sich bei mir noch nicht vorgestellt".
Ein anderes Mal überraschte sie mich mit ihrer direkten Ansprache. Sie fragte mich während des Kaffeetrinkens wortwörtlich: Hast du noch mehr so kleine Hörnchen (es waren so ganz kleine Croissants). Ich hatte keine mehr, dafür legte ich uns für jeden je zwei Kekse auf die Teller. Sie hatte sofort weiter zugelangt und sie sich in den Mund geschoben. Danach fuhr sie mit ausgestreckter Hand zu meinen Teller ihr gegenüber und nahm sich mein letztes Plätzchen. Ich sagte nichts, weil diese Manieren ja krankheitsbedingt sind. Dachte mir aber, der Marie schmeckt es heute wieder und eigentlich hätte ich den Keks auch gerne selbst gegessen, weil sie doch schon alle vier Minihörnchen gegessen hatte. Als wenn sie meine Gedanken hätte lesen können, brach sie den Keks in der Mitte durch und gab mir die Hälfte mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich nicht beschreiben kann. Sie hatte zwar gemerkt, dass sie etwas gemacht hat und es schien so als wäre ihr bewußt geworden, dass ich sie beim Mundraub ertappt habe, aber ihr Blick war zugleich auch triumpfierend.
Danach sagte sie wieder nichts mehr.
Dass sie neue Schuhe an hatte wusste sie nicht und das ihr Mann sie bei mir für drei Stunden abgeliefert hat und weiter gefahren ist, bekam sie z.B. überhaupt nicht mit.
Ff