Mobile Version Disable hint

Sie war spät dran. Hatte sie doch bis zuletzt versucht alles Wissen in sich aufzusaugen. Schneller als erlaubt flog sie in Richtung Greifberg.
„Ich werde es nie rechtzeitig schaffen, um vor der Prüfung noch kurz einen Blick in die neue Bestimmungstafel zu werfen. Und wenn ich nicht bestehe, muss ich elf Winter auf eine neue Möglichkeit warten“, schimpfte Verbena halb zu sich selbst, halb zu ihrem Fluggerät. Wollte sie doch unbedingt endlich die Prüfung zur mythologisch anerkannten Fachkräuterhexe bestehen. Als Wald- und Wiesenhexe war sie bereits 22 Winter – nun, auf Wald und Wiese tätig gewesen. Hätte sie doch nur auf Schnipps gehört und wäre schon gestern angereist. Schnipps und Misty waren Zuhause geblieben und warteten gespannt auf das Ergebnis der Prüfung. Eigentlich wäre beide gerne mitgekommen, da sie Verbana nur sehr selten von der Seite wichen aber heute hatte sie es einfach zu eilig und wollte es sich nicht erlauben noch mehr Zeit zu verlieren.
Verbana hatte sich gut auf die Prüfung vorbereitet, nur die neue Kräuterbestimmungstafel der 222222 Kräuter hatte sie sich nicht mit den Unterlagen erhalten. Vermutlich ist sie auf dem Zustellungsweg per Rabenpost verloren gegangen. Eine Nachlieferung kam bei der erlaubten Vorbereitungszeit von einem Tag nicht in Frage.
„2222 neue Kräuter sind auf der Tafel vermerkt und ich kenne sie nicht“, schimpfte sie weiter vor sich hin. „Los, zeig was in dir steckt, treuer Freund!“, spornte sie ihren Besen an und zischte durch den nächtlichen Sternenhimmel.
Als Wald- und Wiesenhexe gehörte unter anderem die Kräuterzucht und –pflege zu ihren Aufgaben. Wenn sie die Prüfung zur mythologisch anerkannten Fachkräuterhexe abgelegt hatte, wäre es ihr endlich möglich ihr Können in den Dienst der Speisenzubereitung und der Heilkunde zu stellen.
Sie flog sehr niedrig, um nicht in eine Geschwindigkeitskontrolle zu geraten. Von unten strömte ein Duft zu ihr empor, der unweigerlich den Frühling verriet; aus dem lichten Waldstück stieg das unverwechselbare Aroma von Bärlauch.
„Riechst du das alter Besen?“, sie nannte ihn so, da es der alte Besen ihrer Großmutter war, den sie Verbana schenkte, als sie die Besenfluglizenz bestanden hatte. „Was könnte man daraus für ein schmackhaftes Pesto zubereiten oder eine leckere Suppe – das wäre jetzt schön.“, schwärmte sie vor sich hin.
Plötzlich wurde Verbana aufmerksam: „Hast du das auch gesehen, dort unten?“ Auf einer kleinen Lichtung im finsteren Wald war ein grünlicher Lichtschein zu sehen. „Da ist bestimmt jemand in Schwierigkeiten, und verbrennt Kupferpulver!“ Es war allgemein in Notlagen üblich, durch die Verbrennung von Kupferpulver und der daraus entstehenden grünen Flamme auf sich aufmerksam zu machen.
„Auch wenn ich mich dadurch noch mehr verspäten werde, müssen wir versuchen dort unten zu Helfen!“ Geschickt steuert sie ihren Besen auf die kleine Lichtung zu und setzte, so dicht wie möglich, neben dem Feuer auf. Sogleich eilte ein aufgeregt mit den Armen fuchtelndes Männchen auf sie zu.
„Oh, wie gut, dass ihr vorbei kommt und uns helft!“, hörte Verbena seine piepsige Stimme, “Mein liebes Flöckchen hat sich verletzt und kann nicht weiter gehen.“ Er deutete auf eine noch junge Hirschkuh, die am Boden im saftigen Gras kauerte.
„Was ist denn geschehen?“
„Wir sind auf dem Weg zu unserem hundertjährigen Sippentreffen und waren hier über Stock und Stein gesprungen, als Flöckchen plötzliche stürzte und nicht mehr aufstehen konnte.“

Open

Als das Lamm sie mit einem quengelnden Laut aus den Gedanken riss, tastete sie sich langsam weiter zu dem verletzten Huf vor, den es eng an sich gezogen hatte.
"Aber vorsichtig! Aber vorsichtig!", rief der Mann, dessen weißer Bart erst einen halben Meter über dem Boden zum Ende kam. Er war sehr klein und gehörte wahrscheinlich zum Volk der hiesigen Gnome. Sie wirkten lustig und ungefährlich, aber wenn man einen von ihnen erzürnte sollte man auch als vermeintlich stärkerer Mensch lieber schnell das Weite suchen. Verbana hatte mal von einem Fall gehört, wobei Gnome eine Hexe überfielen und ihr sämtliche Kräuter gestohlen hatten, obwohl diese nur versuchte einen Streit zu schlichten. Irgendwie muss ihr beim Schlichten etwas über die Lippen geglitten sein, dass beide Parteien verletzt hatte.
"Ich werde gaaanz vorsichtig sein", beschwichtigte sie den Gnom und streichelte langsam über das Gelenk des Tieres. Vermutlich war es nur verstaucht. Der Schmerz in den Augen des Lammes machte Verbana traurig. Sie konnte fast fühlen, wie sehr es um Hilfe bettelte.
Sie wandte sich an den Gnom: "Ich werde dir eine Salbe geben, die du auf die Wunden deines Lammes geben musst. Das wird die Schwellung abklingen lassen und Flöckchen kann bald wieder wild umher tollen", sie zwinkerte ihm zu.
"Oh danke!", rief der alte Gnom, der ihr nur bis zum Bauch ging und umarmte sie emsig.
Es erfreute Verbana mit welcher Liebe die Gnome ihren Lämmern begegneten, als dieser voller Eifer großzügig etwas von der Salbe auf den verletzten Knöchel auftrug.
Plötzlich traf es sie wie ein Schlag. "Die Prüfung!", sie schmiss sich auf ihren Besen und wäre fast hinunter gefallen, als dieser nahezu senkrecht in den Himmel hinaufstieß. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut, der wild im Wind flatterte, mit der Anderen den Besen der schnell aber wackelig sicher an einem internationalen Hexenrennen hätte teilnehmen können. Seine Schnelligkeit war unglaublich.

Open

Unglaublich, wenn man bedachte, wie alt der Besen schon war. Schneller, schneller, schneller., dachte sich Verbana, denn sie hatte keine Lust noch weitere elf Winter zu warten...
Sie wagte sich noch ein Stück schneller zu fliegen, obwohl sie Angst haben musste zu stürzen oder angehalten zu werden, als sie plötzlich den Ruf einer Eule hörte. Sie kannte die Rufe der Eulen und das war eindeutig ein Hilferuf. Verbana biss sich auf die Lippe und dachte nach: Helfen? Nicht Helfen? Sie musste der Eule zur Hilfe eilen. Sie ortete sie und stellte erfreut fest, dass sie auf dem Weg lag. Ganze fünfzehn Meter weiter landete sie auf dem Boden, wo sich eine kleine graue Eule in dem Netz eines Jägers verfangen hatte, was eigentlich für einen Hasen gedacht war...

Open