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Als die Regenwürmer sich im Todeskampf in der Erde wanden, ahnte noch niemand, dass das erst der Anfang sein sollte. Niemand vermisste diese winzigen Kreaturen, und auch bis die Schöpfung als Ganzes ihre Abwesenheit bemerken und einen minimalen Teil ihres Naturkreislaufs dementsprechend umstellen sollte, würde noch viel Wasser den Bach hinunterlaufen. Das "wirbellose Tier des Jahres" 2004 verschwand mit seinen zahlreichen Unterarten genauso unbemerkt und unspektakulär von der Erdoberfläche, wie es knapp darunter jahrhundertelang gehaust hatte. Nur eine Handvoll verrückter Forscher weltweit wunderten sich über den plötzlichen Exodus der Regenwürmer. Sie schrieben es lokalen klimatischen Veränderungen, Schadstoffeinträgen und Flächenversiegelungen zu und nahmen sich vor, baldestmöglich in einer Fachzeitschrift einen Artikel darüber zu publizieren. Wären sie Teil der weltweiten Vernetzung gewesen, dann wäre das Ausmaß der Katastrophe sicherlich schon früher bekannt geworden. Aber da sie allesamt als Koryphäen auf ihrem jeweiligen Gebiet bekannt waren, hielten sie einen Austausch mit Kollegen weder für befruchtend noch für nötig und werkelten lieber im stillen Kämmerlein vor sich hin. Dieser Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt, sollte der Welt zum Verhängnis werden. Während die Forscher sich also wichtigeren Dingen zuwandten, standen einige Köderzüchter händeringend vor ihren ausgestorbenen Wurmfarmen und fragten sich, was sie nur falsch gemacht hatten.

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Die Heuschrecken, seit jeher als Boten des Untergangs geschmähte Kreaturen, konnten durch ihr weltweit synchronisiertes Ableben schon mehr Staub aufwirbeln. In umgekehrter Karikatur der 8. biblischen Plage, bei der die Heuschrecken nur Schrecken und Verwüstung hinter sich gelassen hatten, waren es nun sie selbst, die der milliardenfachen Vernichtung anheimfielen. Ganze Heerscharen erhoben sich im Todeskampf ein letztes Mal in die Lüfte, unheilschwanger stridulierend, um im nächsten Moment wie ein Mann ermattet zu Boden zu stürzen und für immer zu verstummen. Nicht in gefräßigen Schwärmen suchten sie nun die Erde heim, sondern in Todesschwadronen, die nur ihr eigenes Ende verkündeten. Ihre Flügel schwirrten durch die Frühlingsluft und sangen vom bevorstehenden Untergang. Der Wind trieb sie scharenweise hinaus auf das offene Meer, wo sie im nächsten Augenblick wie Blei von Himmel stürzten und wieder an Land getrieben wurden. Die Kadaver von Lang- und Kurzfühlerschrecken übersäten die Weite der Erde, während Wanderheuschrecken, die ihr Lebtag kein Beinchen aus ihrem gut gelüfteten Terrarium gesetzt hatten, still und heimlich tot umfielen. Vielleicht war es die Kränkung, die sie erfahren hatten, als ausgerechnet sie als Sinnbild und Symbol des menschgemachten finanztechnischen Untergangs herhalten mussten. Als abwertende Tiermetapher in den allgemeinen Sprachgebrauch einzugehen würde jeden nachdenklich stimmen, da war es auch kein Trost, dass sie es immerhin auf den 4. Platz bei der Wahl zum Wort des Jahres 2005 schafften. Doch das war nun alles Schnee von gestern. In weiten Teilen der Welt befand man sich stundenlang im Freudentaumel angesichts des Heuschreckenregens, hielt man doch die Naturkatastrophe mit der dem Menschen eigenen Arroganz für ein persönliches Geschenk des Himmels. In der südlichen Hemisphäre fand ein einziges Festmahl statt, als plötzlich kiloweise Proteinhäppchen praktisch von den Bäumen fielen. Erst als die Hitze die letzten Reserven vernichtet und ungenießbar gemacht hatte, wurde man sich der Tragweite der Geschehnisse bewusst: Keine koscheren Heuschrecken-Köstlichkeiten mehr, keine jemenitischen Vorspeisen, keine mit Erdnüssen gefüllten Wok-Heuschrecken in Kambodscha. Erst als der letzte Bauch gefüllt war, begann man, sich über den Grund für die Katastrophe Gedanken zu machen.

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