Ich blinzelte und sah durch meine halboffenen Augen, wo ich war. Ich lag in einem Wald. Alles, woran ich mich noch erinnern konnte, war, dass es laut geknallt hat und es eine Massenpanik gab. Und dass ich auf einer Geschäftsreise nach Südamerika war. `Das Flugzeug! Es ist abgestürzt`, schoss es mir durch den Kopf. Und mein Fallschirm ist sehr wahrscheinlich durch einen Baum zerrissen worden. Ich versuchte aufzustehen. Aber mein rechtes Bein spielte nicht wirklich mit. Ich zog mich an einem Baum hoch und hielt mich fest. Ich sah mich um. Wie ein Wald sah es nicht aus. Zu groß war es. Und die Bäume waren zu hoch. Ich bückte mich und hob einen starken Ast auf, den ich als Gehstock und Stütze für mein rechtes Bein benutzte. Ich fing an zu laufen, in der Hoffnung, die anderen Menschen zu finden, die auch mit dem Flugzeug abgestürzt sind. Mit der Zeit wurde es gruselig. Überall hörte ich Geräusche. Entweder ein Rascheln oder ein Zischen. Und ich sah überall Schatten, die an mir vorbeihuschten. Auf einmal legte sich mir eine kalte Hand auf die Schulter. Ich schrie auf und drehte mich um. Da stand ein Mädchen, sehr groß und dünn. Ihr rotes verfilztes Haar reichte ihr bis zum Bauchnabel. Sie hatte sehr zerfetzte Kleidung an und sah aus, als hätte sie sich seit Jahren nicht gewaschen. „Hallo“, sagte sie. „Ich bin Tamara!“ Sie hielt mir die Hand hin und ich, noch immer erschrocken, schüttelte sie. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken“, fuhr sie fort. Ich kam auch mal dazu, etwas zu reden: „M-macht nichts. Ich bin Alexandra. Das Flugzeug ist…“ Sie unterbrach mich: „…abgestürzt, ich weiß. Und du bist hier gelandet!“ „Woher weißt du das?“ „Sagen wir es mal so…“, ihre Stimme wurde heiser. „…hier, in diesem Viertel, stürzen jedes Jahr sehr viele Flugzeuge ab… Hast du dich beim Sturz eigentlich verletzt?“ Ich merkte, dass mein Bein nicht mehr weh tat und meine Kopfschmerzen waren auch weg. „Nein, alles bestens! Außer dass ich nicht weiß, wie ich heimkomme!“ Tamara meinte nur: „Morgen kommen die Hubschrauber, die dich abholen werden. Über Nacht kannst du bei mir schlafen, wenn du willst!“ „Okay.“ Erst jetzt wurde mir klar, dass es schon Nacht war. „Gut, folg mir“, sagte Tamara und ging voraus. Es dauerte nicht lange, bis wir an einer Höhle ankamen, die wahrscheinlich Tamaras Haus war. „Hier wohne ich!“ Tamara kroch durch ein kleines, enges Loch. Ich folgte ihr. Als ich drinnen war, schaute ich mich um. Sie hatte sich ein Bett aus Stroh und Blättern gebaut und einen Tisch aus Holz. Und natürlich auch Holzstühle. „Schön hast du es hier.“ „Danke.“ Ich sah Tamara an. Ich bemerkte die Halskette an ihrem Hals. Es war ein Lederband mit drei Tierzähnen daran. „Wow, die Zähne an dieser Kette sehen total echt aus“, sagte ich. Tamara antwortete nur: „Sind sie auch… Ich bin irgendwie müde. Können wir schlafen?“ „Okay.“ Ich legte mich neben Tamara und schlief schnell ein. Am nächsten Morgen weckte mich Tamara. „Guten Morgen und aufstehen!!!“ Ich rieb mir die Augen und fragte mich, wie man morgens nur so munter sein konnte. „Los, der Hubschrauber ist schon da“, schrie Tamara und ich wurde wach. Jetzt hörte ich das Surren auch. „Oh, ich muss los!“ Und schnell war ich aufgestanden. „Warte, ich geh noch mit“, meinte Tamara. „Und das hier ist für dich.“ Tamara reichte mir ein Stück Papier, das mit einem Lederband zugebunden war. „Es ist ein Brief, aber lies ihn erst, wenn du im Hubschrauber bist“, erklärte Tamara. Und dann kroch ich durch das Loch nach draußen und Tamara mir hinterher. Draußen verabschiedete ich mich von Tamara und umarmte sie. Dann stieg ich in den Hubschrauber. Drinnen saßen ein paar Leute, die sich an dem kühlen Fenster den Kopf abstützten. Ich suchte mir einen leeren Platz und ließ mich nieder. Ich sah aus dem Fenster. Tamara stand dort und winkte mir zu. Ich winkte zurück. Dann öffnete ich den Brief. Ich las: „Liebe Alexandra, ich bin froh, dass du diesen Brief liest. Du warst meine Freundin oder bist es immer noch. Ich hoffe, du wirst mich nicht vergessen.“ Ich unterbrach das Lesen und schaute noch mal aus dem Fenster. Dort wo Tamara stand, schlich ein Leopard in den Dschungel und – er trug eine Kette mit drei Zähnen daran! Ich wandte mich wieder dem Brief zu: „Also, hör zu: Dieses Viertel ist nicht normal und es wäre besser – für dich und für mich – wenn du NIE WIEDER kommen würdest!“
Einen Moment lang starrte ich nur stumm auf die krakelige Handschrift, die einst sehr schön gewesen sein musste. Dann nahm ich das lederne Band und besah es mir näher. Es bestand aus zwei geflochtenen Bändern, die am Ende miteinander verbunden waren. Neugierig hielt ich es ein bisschen höher. Sicher könnte man es als Armband benutzen. Aber dann fiel mein Blick zurück auf das Stück Papier.
"Dieses Viertel ist nicht normal...", las ich leise vor und runzelte die Stirn. Was meinte sie damit? Ich schaute aus dem Fenster, doch wir waren nun zu hoch, als dass ich das Viertel hätte ausmachen können, in dem Tamara lebte. Sie hatte einen relativ normalen Eindruck gemacht. rötliches langes Haar, braun gebrannt von der scheinbar ewigen Sonne hier. Aber in ihren Augen hatte etwas Wildes, Unbezähmbares gelegen, das mir im Nachhinein erst so richtig auffiel.
Seufzend schloss ich die Augen und lehnte mich in dem Sitz zurück. Je länger ich über all das nachdachte, desto verwirrter wurde ich. Nach mindestens einer halben Stunde kam eine kleinere Stadt in Sicht und der Hubschrauber mit seinen wenigen Insassen war im Begriff, zu landen. Die Sonne war bereits aufgegangen und es versprach ein schöner Tag zu werden. Aber irgendwie konnte ich mich an dem schönen Wetter nicht erfreuen.
Nachdem die Überlebenden des Flugzeugabsturzes alle ausgestiegen waren, brachte man uns in ein nahe gelegenes Krankenhaus, wo wir gründlichst untersucht wurden. Es stellte sich heraus, dass ich nur eine leichte Verletzung am Bein hatte. Trotz meiner Proteste wollten sie mich mindestens einen Tag hier behalten.
"Diese Menschen sind einfach viel zu übervorsichtig", grummelte ich missmutig und machte es mir in dem Bett bequem, das sie mir zugewiesen hatten. Ich war mit einer weiteren Frau im Zimmer, die sich ebenfalls in meinem Flieger befunden hatte. Sie hatte sich schwerere Verletzungen zugezogen. Ihre Augen waren geschlossen, offensichtlich schlief sie.
Ich seufzte und überkreuzte die Arme hinter meinem Kopf. Zu meiner Linken konnte ich durch ein großes Fenster nach draußen sehen. Überall waren Häuser zu sehen, aber am Horizont erkannte man vage die Baumkronen des Waldes.
Was würde ich dafür geben, noch einmal mit Tamara sprechen zu können, dachte ich und blinzelte schwer. Müdigkeit überkam mich plötzlich. All das war einfach zu aufregend und stressig gewesen. Meine letzten Gedanken galten Tamara und dem Leoparden, den ich gesehen hatte, bevor der Hubschrauber fort geflogen war...
In dieser Nacht schlief Alexandra schlecht. Träume von Leoparden und rothaarigen Mädchen suchten sich heim und mischten sich mit ins Unterbewusstsein verdrängten Erinnerungen an den Absturz. Schreie waren zu hören. Vor ihren Augen verschwamm alles. Sie erwachte schreiend aus ihrem Traum und setzte sich keuchend auf.
"Hallo", flüsterte da eine Stimme und Alexandra zuckte zusammen. Ihre Zimmernachbarin lächelte schwach zu ihr herüber, "Schlecht geträumt?"
"T...tut mir Leid, falls ich Sie geweckt habe", murmelte Alexandra beschämt.
"Das macht nichts", erwiderte sie, "Viele schreien im Schlaf. Das ist normal, wenn man etwas Schreckliches erlebt hat"
Es was sehr dunkel und Alexandra konnte sie kaum erkennen.
"Ich bin Sarah, ich habe vor dem Absturz in einer Psychiatrie gearbeitet, ich bin an Schreie gewöhnt", berichtete sie, "Ich wollte nach Südamerika meinen Freund besuchen- wie sieht es mir dir aus?"
"Ich heiße Alexandra und ich bin auf Geschäftsreise nach Südamerika aufgebrochen", antwortete Alexandra müde.
"Du bist ja noch ziemlich jung- schnelle Karriere gehabt, was?"
Alexandra zuckte mit den Achseln. Dann schwiegen sie für eine Weile.
"Naja, versuch noch ein bisschen zu schlafen", murmelte Sarah und bewegte sich ein bisschen in ihrem Bett. Es quietschte. "Gute Nacht"
"'Nacht"
Alexandra wälzte sich noch lange in ihrem Bett herum. Obwohl sie müde war, fand sie keinen Schlaf. Sie dachte ständig an Tamara. Woher kam sie und wer war sie? Ein rothaariges Mädchen in Südamerika war doch sehr ungewöhnlich und vor allem- im Dschungel? War sie auch einmal abgestürzt?
"Du warst meine Freundin", rief sich Alexandra die Worte in den Kopf. Freundin? Obwohl sie sich erst so kurz kannten, sprach sie bereits von Freundinnen...das war nett, wunderte Alexandra aber auch. Es wäre besser, wenn sie nicht wieder käme...Wieso sollte sie? Sie hatte nicht vorgehabt in den Dschungel zurückzukehren, bis Tamara diesen Brief geschrieben hatte. Jetzt war ihre Neugier geweckt. Hatte Tamara das vielleicht bezwecken wollen, dass ihre Neugierde geweckt wurde?
Sie konnte sich weder auf Tamara, noch auf die Geschehnisse einen Reim machen und schließlich, nach vielen weiteren Gedanken schlief sie erneut ein.
Dieser Traum war erstaunlich kurz. Und dazu noch sehr real. Fast zu real, wie Alexandra später auffiel, obwohl sie sich nicht an alle Einzelheiten erinnern konnte. Aber an was sie sich nach dem Aufwachen erinnern konnte, war nicht sehr erfreulich.
Alexandra stand auf einem hohen Plateau, das sogar noch über die meterhohen Baumkronen ragte und einen wunderbaren Blick über den Dschungel bot. Die Sonne brannte herunter, aber die Sonne selbst war nirgends zu sehen. Das gleißende Licht schien von überall herzukommen. Alexandra hob den Kopf und schloss für einen Moment die Augen, in dem sie tief durchatmete.
"Alexandra."
Überrascht drehte sie sich um und sah den Leoparden, der Tamaras Halsband trug. Sie blinzelte erstaunt und starrte das Tier an. Sie hatte keine Angst, obwohl es ein ziemlich großes und eindeutig tödliches Tier war. Seine großen grünen Augen hielten ihrem Blick mühelos stand.
"Tamara?", flüsterte sie.
Der Leopard senkte kurz den Kopf und sah sie dann wieder an. Alex konnte das Keuchen nicht unterdrücken und sackte auf die Knie.
"Du bist es wirklich. Aber wie ...?"
"Das ist nicht wichtig. Hör mir zu." Der Leopard kam auf sie zu, bis er nur noch einen Meter von ihr entfernt stehen blieb. "Du darfst nie wieder hier herkommen! Egal, wer oder was dich dazu bringen könnte. Hörst du mich? Alex! Komm nie wieder hier her! NIE!"
Aber Alex hörte sie kaum mehr. Die Stimme, die von dem Tier zu kommen schien, wurde leiser und um Alex herum wurde es dunkel. Sie schien im Nichts zu schweben, bis sie mit einem Ruck die Augen aufriss und an die Decke starrte.
Das helle Licht des Krankenzimmers war grell und brachte ihre Augen zum Tränen.
"Na, wie fühlen Sie sich heute, Miss McCoin?", fragte eine Stimme zu ihrer Rechten und sie drehte den Kopf herum. Da stand ein gut aussehender Mann in weißem Kittel und einem Klemmbrett unter dem Arm. Er musste ihr Arzt sein.
"Eh... gut?"
Der Mann lachte auf und nickte. "Ich will nur sicher gehen, dass auch wirklich alles in Ordnung mit Ihnen ist, bevor wir Sie entlassen."
"Darf ich endlich gehen?"
Er lächelte und nickte. "Ja, aber zuerst muss ich Sie ein letztes Mal noch untersuchen."
Nachdem er seine Untersuchungen abgeschlossen und sie unzählige Fragen gestellt hatte, reichte er ihr die Hand und wünschte ihr noch einen schönen Tag, bevor er das Zimmer verließ.
Alex schwang die Beine aus dem Bett und blieb noch kurz sitzen.
"Gratuliere", meinte Sarah, die sie vom Bett gegenüber anlächelte. "Du hast es hier raus geschafft."
"Was ist mit dir?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich muss den ganzen Schwachsinn noch länger über mich ergehen lassen, fürchte ich."
"Oh, das tut mir Leid." Ihr wurde bewusst, dass sie gar nicht wusste, welche Verletzungen Sarah sich eigentlich zugezogen hatte. "Trotzdem hoffe ich für dich, dass du so schnell wie möglich entlassen wirst."
"Ja, das hoffe ich auch."
Alex kramte ihre sieben Sachen zusammen und bevor sie das Zimmer verließ, verabschiedete sie sich herzlich von Sarah und umarmte sie. Dann wurde sie von einer Krankenschwester an den Empfangsschalter gebeten, um die Formalitäten zu erledigen.
Danach war sie endlich frei, zu gehen. Alex atmete tief durch und schritt durch die große Türe nach draußen in die stickige heiße Luft Südamerikas.