"Und, wie lange ist er schon in diesem Zustand?"
"Seitdem sein Hund tot ist. Ich habe aber schon vorher Veränderungen an ihm bemerkt, die mir Angst gemacht haben", flüstert die Mama und sieht dabei den Therapeuten, nicht den Jungen an.
"Gut, darf ich Sie dann bitten, hinaus zu gehen. Ich will mal sehen, ob Theo mich an sich heran lässt."
"Hallo Theo! Darf ich mich dazu setzen?" Ein kurzer Blick des Jungen, der den Therapeuten erschreckt. Die dunklen Augen des Kleinen schwimmen in Leid.
"Du liest wohl gerne? Ich auch. Kuck, da haben wir ja schon etwas gemeinsam."
"Gar nicht."
"Nein? Aber das Buch auf deinem Schoss gefällt dir?"
"Nein."
"Etwas in dem Buch", stellt der Therapeut fest und liegt damit richtig. Theo nickt kurz und zeigt auf ein Bild. Der Therapeut robbt auf dem Parkett vorsichtig näher an den Jungen heran.
"Ein Hund. Und was für ein schöner. Was ist das für eine Rasse?"
"Weiß nicht."
"Aber er gefällt dir?" Das verhaltene Kopfnicken zeugt von der Spannung in dem Kind. Siebenjährige reagieren in solchen Momenten mit Ablehnung oder Begeisterung. Schwarz oder Weiß, was anderes gilt nicht. Theo aber empfindet Leid.
Ich könnte ihn jetzt nach seinem Hund fragen, aber das scheint mir in diesem Fall zu voreilig. Für einen Augenblick weiß er sich keinen Rat, bis ihm plötzlich eine Kindergeschichte einfällt, die er Jahre zuvor seinen Kindern vorgelesen hatte.
"Weißt du eigentlich wer ich bin?" Kopfschütteln.
"Ich heiße Wollipolli."
"Glaub ich nicht. So heißen Menschen nicht."
"Ach! Wie heißen Menschen denn dann?"
"Polcic, Ramez oder so. Oder wie ich: Bergmann."
"Spielst du Fußball?"
"Manchmal, auf dem Schulhof."
"Weißt du, wer Patrick Olaiya Olukayode Owomoyela ist?"
"Nein. Will ich auch nicht wissen."
"Versteh ich. Hast zurzeit andere Sorgen. Der Patrick ist ein ganz bekannter Fußballspieler, der sogar in der Deutschen Nationalmannschaft spielt."
"Ja und?"
"Würdest du sagen, dass es den Namen nicht gibt?"
"Gibt es. Weiß ich. Der spielt bei Dortmund."
"Super. Das hab nicht mal ich gewusst. Und ich weiß viel. Also, glaubst du mir jetzt vielleicht, dass ich Wollipolli heiße?"
"Von mir aus."
"Gut. Das freut mich. Würde dich doch auch ärgern, wenn ich dir deinen Namen nicht glauben würde, oder?" Theos Schulterzucken zeigte dem Therapeuten einiges.
"Soll ich dir mal was sagen: Wir machen Schluss für heute. Was hältst du davon, noch einmal wiederzukommen. Dann erzähle ich dir auch, wie ich an diesen komischen Namen gekommen bin. Ein Geheimnis kann ich dir aber schon anvertrauen: Der Name habe ich von einem Zauberer bekommen, als ich selber noch ein kleiner Junge war."
Bewusst gelangweilt sah Wollipolli an dem Jungen vorbei, als schwelgte er in alten Erinnerungen. Die Skepsis bei gleichzeitig aufglimmender Neugierde in den immer noch wässrigen Augen Theos entging ihm natürlich nicht.
Nach einer Weile hörte er wieder die Stimme des Jungen, immer noch trotzig, allerdings weniger als zuvor: " Zauberer gibt es nicht."
" Bist du dir da sicher?", fragte Wollipolli schmunzelnd.
" Hat die Mama mir gesagt.", erwiderte Theo, " Und den Osterhasen und die Zahnfee gibt's auch nicht."
Musste ein Schock für den Jungen gewesen sein, das alles in so einem kurzen Zeitraum zu erfahren...zusammen mit dem Tod seines Hundes. Wollipolli war nicht dumm, er wusste, dass die Trauer des Jungen nicht nur dem Hund galt. Seine Eltern wollten sich scheiden lassen. Natürlich wusste Theo nichts davon, aber Kinder, egal wie jung, spüren es instinktiv, unterbewusst und es nahm Theo sichtlich mit. Es war zu viel für ihn.
" Das sagen die Leute, die keine Ahnung haben.", erwiderte er deshalb schmunzelnd, " Es ist ein Geheimnis." Er legte den Zeigefinger auf die Lippen.
Nun konnte Theo seine Neugier nicht mehr verbergen: " Was für ein Geheimnis?"
" Das erzähle ich dir, wenn du das nächste Mal hier bist.", erwiderte Wollipolli und lächelte. Er würde Theo die Geschichte erzählen, die sein Leben verändert hatte.
Er begrüßte Theo mit wenigen Worten und bat ihn anschließend, ihm ein Bild zu malen. Selber blätterte er gewichtig in einem dicken Ordner, ohne Theo weiter zu beachten.
Theo starrte auf die Buntstifte, die kreuz und quer verstreut auf dem niedrigen Tisch lagen. 'Wie unordentlich', würde Mama sagen; 'was soll denn dieses Chaos?" sein Vater.
Wollipolli schien nicht so zu sein, wie sonst so die Erwachsenen waren. Theo schielte zu dem Mann hinüber, der, genau wie Theo selbst, auf dem Teppich kniete.
"Schon was gemalt?" erschreckte Wollipolli den Jungen, der daraufhin von einem Stapel Papier ein Blatt nahm und lustlos mit dem erstbesten Stift ein paar Striche malte.
"Hast keine Lust zu malen, oder?"
Theo schielte erneut zu dem Mann hinüber, der aussah wie alle alten Männer und doch anders war. Der blätterte weiter, als hätte er nichts gefragt. Theo wurde unruhig, was der Therapeut mit Genugtuung registrierte. Lange würde Theo es nicht mehr aushalten, vermutete er. Und richtig. Fünf Minuten später platzte es aus Theo heraus: "Erzählst du mir dein Geheimnis?"
"Aber Theo, dann wäre es kein Geheimnis mehr."
Theo dachte nach. Es dauerte nicht lange. Theo hatte sich entschlossen nicht nachzugeben: "Stimmt, aber du hast es mir versprochen."
Jetzt schien Wollipolli nachzudenken. Das fand Theo gut. Erwachsene dachten nur wenig nach; und schon gar nicht darüber, was Kinder sagten.
"Habe ich das?" Der Therapeut sah Theo streng an.
"Ganz bestimmt!" rief Theo mutig. "Das weiß ich ganz genau."
Wollipolli schmunzelte und sagte dann leise: "Nah gut, setz dich zu mir. Und ..." Wollipolli sah sich vorsichtig um, sodass Theo ein leichter Schauer über den Rücken lief. "Wir müssen vorsichtig sein. Niemand darf davon erfahren."
Theo schmiegte sich an den Mann, der ihm auf einmal gar nicht mehr fremd vorkam. "Nein", hauchte er, vor Spannung nervös mit den Beinen zappelnd, "von mir erfährt niemand etwas."
"Na dann los", flüsterte Wollipolli und hatte seinen Spaß.
" Als ich ein kleiner Junge war, wie du jetzt einer bist, da lernte ich einen Zauberer kennen.", begann Wollipolli, " Sein Name war Adan, der Kaktusmagier."
" Wieso Kaktus?", hakte Theo nach.
" Das weiß ich auch nicht so genau. Ist halt sein Name, so wie meiner Wollipolli und deiner Theo ist, okay?"
" Okay.", sagte Theo und lauschte weiter Wollipollis Geschichte.
" Ich war damals...acht Jahre alt.", erinnerte sich Wollipolli, " Der Magier sah, dass mich etwas belastete und fragte mich, ob ich mir irgendetwas wünschte."
" -Ja natürlich, habe ich geantwortet- Aber die Sternschnuppen hören mir nicht zu und auch der Weihnachtsmann nicht.- "
" Den gibt es ja auch gar nicht.", motzte Theo.
Wollipolli lächelte gutmütig: " Lässt du mich vielleicht erstmal zu Ende erzählen, Theo?"
" Okay.", Theo nickte.
" Nun, der Zauberer sagte zu mir: -Ich kann deine Wünsche erfüllen. Du bist nun acht Jahre alt, also gewähre ich dir acht Wünsche. Ich werde dich acht Wochen lang an unterschiedlichen Tagen besuchen und jede Woche darfst du dir etwas wünschen.-", erzählte Wollipolli, "Natürlich war auch ich skeptisch, aber der Magier sagte, ich solle ihm einfach vertrauen. Als Gegenzug dafür, dass er meine Wünsche erfüllen würde, verlangte er, mir einen neuen Namen geben zu dürfen, den ich fortan wie meinen eigenen nutzen sollte: Wollipolli."
" Aber wieso wollte er dir einen Namen geben?", platzte Theo schon wieder dazwischen.
" Das weiß ich nicht genau. Noch nicht.", gab Wollipolli zu.
Theo grübelte. Was sollte er als nächstes fragen? Was sich Wollipolli gewünscht hatte? Wo er den Magier finden konnte? Oder lieber, ob es funktionierte? Theo entschied sich für Letzteres: " Und, hat es funktioniert?"
Erwartungsvoll sah er den Therapeuten an.
"Das weiß ich nicht. Vielleicht hätte es geklappt, wenn ich mir etwas von Adan, den Kaktusmagier gewünscht hätte", sagte Wollipolli und sah die Verwirrung sich im Gesicht des Jungen widerspiegeln.
"Das war ein Fehler." Theo sprang auf und hüpfte mit rudernden Armen wild herum.
"Warum?" fragte Wollipolli mit betontem Erstaunen in der Stimme.
"Warum? Weil du ganz viele tolle Sachen nicht gekriegt hast", rief Theo entrüstet und sprang noch wilder durchs Zimmer.
"Ja, das stimmt", sagte der Therapeut und fixierte den Blick des Jungen auf sich. "Aber ich habe es nie bereut. Du weißt, was bereuen ist?"
"Ja, wenn mir etwas Leid tut", murmelte der Junge. "Papa bereut, Mama geheiratet zu haben."
In den folgenden zehn Minuten ließ Wollipolli den Jungen in Ruhe. Der hatte sich weit in sich zurückgezogen.
"Das macht dich traurig. Kann ich verstehen. Nun gut, ich mache dir einen Vorschlag fürs nächste Mal: Du schreibst mir alle Wünsche auf, die dir einfallen, und wir reden dann darüber. Einverstanden?"
Theo nickte nur, hatte keine Zeit mehr herumzureden. Das Gehörte und die daraus resultierenden vielen Ideen schwirrten wie ein Haufen Scrabble Steine in seinem Kopf herum.
Seine Mutter staunte am Abend nicht schlecht, als Theo bat, früher ins Bett gehen zu dürfen. Er begründete es mit dem Vorsatz, einige wichtige Dinge überdenken zu müssen.
"Das hat er so formuliert?" fragte Theos Vater, der, wie so oft in letzter Zeit, erst spät nach Hause gekommen war.
"Ich dachte, ich falle aus allen Wolken", lachte sie herzlich; und ihr Mann lachte mit. Es war lange her, dass sie gemeinsam gelacht hatte.
Komisch dachte Theo, der seine Eltern nebenan hörte, jetzt kann ich schon einen meiner Wünsche streichen.