Gleisbett
Toby machte sich auf den Weg. In der rechten Hand hielt er den Gegenstand, den er sich extra für heute besorgte.
Die Schule lag zehn Minuten Fußmarsch, in dem Stadtviertel am Ende der Stadt. Toby besuchte die Dritte Klasse. Trotz allem viel ihn das Teilnehmen am Unterricht grade morgens enorm schwer. Seine Teilnahmslosigkeit besaß einen anderen Hintergrund. Zuhause war alles wie immer.
Seine Mutter bemühte sich zum Besten, mit den zwei weiteren Geschwistern und seinen Vater sah er nur am Wochenende.
Am vergangenen Freitag, war sein Schulweg ohne besonderen Zwischenfall. Es kam zunehmend seit Wochen häufiger vor, dass er unterwegs Besuche bekam, die seinen Weg zur Schule störten. Als der Störenfried sich das letzte Mal zeigte, schwor er einen Plan auszudenken. Eine Strategie. Ein Kniff um dem Ganzen ein Ende zu setzten.
Bis in die späten Stunden hinein suchte er an dem Samstag einer Lösung nah zu kommen. Um endlich diese Gier des Aufsuchenden zu stillen. Er grübelte und überlegte. Arbeitete Vorschläge aus und legte Skizzen an. Wenn es ihm gelang, sodann gelte es für immer. Für zukünftige Begegnungen. Gedanken kreisten in ihm.
Sein Gemütszustand, alles andere als angenehm erfreut. Sein Schulweg begann jetzt, am Montag. Die Luft hier draußen war kühl. In der Hand hielt er den Gegenstand. Er drückte ihn fester, damit er diesen besser spürte. Dieser war Teil des ausgetüftelten Plans. An der nächsten T-Kreuzung folgte er dieser nach Rechts.
Passierte in drei Minuten angrenzende Häuser und sah von weitem den Bahndamm mit den Gleisen. Davor ein Stück Wiese. Dahinter den schmalen Graben. Und daneben liegend der Fuß und Radweg. Links davon den 400 Meter langen Straßenverlauf mit der Angrenzenden Pferdekoppel. An der Stelle angekommen, blieb er stehen. Tobias sah auf dieses Teilstück seines Weges. Hier war die Stelle, an der sich der Störende ihn in den Weg stellte und Gegenstände verlangte.
Seitlich lag etwas Abseits versteckt hinter einem Buschwerk und Pferdewiesen ein Bauernhaus. Gegenüber davon der Bahnübergang, die hochstehenden Schranken und dahinter sein weiter führender Weg zur Schule. An dieser Eisenbahnkreuzung stand ein kahler Baum. Hochgewachsen und knochig. Wenn Tobias diesen alten Baum erreichte, war das Duell beendet, sofern der Störende in Erscheinung trat. Heute lag die Straße vor ihm leer. Er sah ihn nicht. Dessen ungeachtet griff er hinter sich nach dem Verschluss mit der linken noch freien Hand. Nur für den Fall der Fälle, er taucht auf. Dieser diente zum lösen seines Ranzen.
Bei einer seiner letzten Treffen ergriff dieser Störende nach dem Ranzen an seiner Schulter. Somit war es Tobias nicht gegeben zu fliehen. Damit er ihn nicht nochmals festhalten konnte, hatte er sich diesen genialen Kniff, wie er ihn nannte, ausgedacht. Sobald er an diesem zog, fiel der Ranzen von seinen Schultern herab. Bereit zur Flucht.
Wie hatte er ihn angeschrien, den Schulranzen los zu lassen. Vergebens. Doch der viel größere und ältere Junge lachte nur höhnisch und verursachte mit seiner kräftigen Hand, mehrere blaue Flecken an seinem Oberarm. Erst nachdem Tobias ihm Wegzoll gab, ließ er von ihm ab. Tobias wühlte dieses Ereignis stark auf, dass er sich für ein, zwei Minuten an dem großen, alten Baum hinsetzte und diesen Moment für sich brauchte. Nach Luft rang, in Tränen versank, um den Rest des Schulweges, trotz schnelleren Schrittes zu bewältigen. Und rechtzeitig mit dem Gong, die Schulklasse zu betreten.
In der linken Hand fühlte er den Verschluss, mit den anderen Fingern den Gegenstand setzte er sich in Bewegung. Erst langsam, dabei ausschauhaltend, dann folgend so wie sein gewöhnliches Schritttempo lag. In der Mitte der Wegstrecke entlang der Bahnschienen, sah er auf eine Bank, die zum Rasten einlud. Der Geruch des seichten Grabenwassers stieg zu ihm auf. Modernder Gestank. Dieser veranlasste ihn die Seite des Gehweges zu wechseln. Nochmals fiel sein Blick auf die Bank. Von hier aus war der Bahnübergang greifbar nah, und beginnend ein Lied zu pfeifen, kreisten seine Gedanken fern vom Störenfried.
Mutschöpfend auf einen Schulweg ohne seines Besuches,
erblickte Tobias etwas, was sich an der Grabenseite auf ihn zu bewegte. Sofort stoppte er mit dem Pfeifen. Seine Mundwinkel spannten sich. Er dachte erst an einen Hasen, der sich an ihm vorbei mogeln wollte. Im Wildwuchs. Doch das war größer.
Das, was auf ihn zu kam. Im kniehohen Wiesengras.
Um ihn erneut zu spüren, drückte er seine Hand fester zusammen und bereitete sich auf einen Angriff dieses Jungen vor. Fast das ganze Wochenende dachte er an diese Situation. Hoffentlich war er stark genug. Er war es.
Pferde sprangen vergnügt in der Koppel links von ihm umher. Lenkten ihn für einen flüchtigen Augenblick ab. Vor ihm raschelte es erneut. Tobias schaute zu der Stelle von der die Geräusche zu ihm drangen. Er erschrak. Sein Herz schlug pochend gegen seinen Hals. Da stand der große Junge zum wiederholten Male. Der Störende, der es auf Tobias abgesehen hatte.
»Versteckt habe ich mich. Überraschen gelungen, hast
was? Hast was für mich. Du weist, meine Mutter
hat es nicht mehr gut. Gib her. Na gib was her«
Die Stimme des älteren Jungen klang rau, gierig und kalt. Und Tobias wusste, er musste ihn geben, was dieser von ihm wollte. Vereitelnd seinem Plan. Gelang es ihm Hier und jetzt. Anfänglich hatte er es versucht sich zu wehren.
Doch der Ältere Junge war zu kräftig für ihn.
Jetzt war er vorbereitet. Tobias drückte den Gegenstand in seiner Hand und wich zurück. Einen Schritt nach hinten.
»Was denn? Was denn? Was denn? Ich schleuder Dich in den Graben und ertränk Dich in der Dreckspisse da. Dann bearbeite ich den Rest von Dir und Du kannst nicht ... mehr ... schreien«
Tobias bemühte sich seiner Angst Herr zu bleiben. Er spannte seine Muskeln an. Um jeden Preis musste er tapfer sein. Er mit seinen neun Jahren. Der große Junge vor ihm, fast Achtzehn, tat einen Schritt zu Tobias und versuchte nach ihm zu greifen. Im gleichen Moment ließ Tobias den Gegenstand in seiner Hand rotieren. Metallisch klingend öffnete sich dieser. Mit all seinen Kräften schlug Tobias zu und traf den Älteren in den Oberschenkel seines rechten Beines. Die Wunde blutete und verfärbte sein Jeansbein. Der Stich von Tobias hinterlies einen klaffenden, blutenden Schlitz. Der große Junge schrie auf. Versuchte Tobias zu packen. Dieser schritt geschwind nach hinten weg.
Dabei fiel er hin. Aufschreiend nach vorne stürzend, da er sich zur Seite wegwand, erfasste dieser nur Tobias Ranzen. Jetzt kam sein zweiter Kniff. Mit seiner linken Hand zog er an den Verschluss und der Schulranzen löste sich von seinen Schultern. Rappelte sich auf und blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen.
»Du bist erledigt! Ich mach Dich Leer!«
Schwerfällig und gleichgewichtssuchend raffte der Junge sich auf und versuchte krampfhaft ihn zu packen.
Erstaunt von seiner schnellen Handlung sprang Tobias zur Seite, fiel erneut hin; kroch auf allen Vieren, erhob sich unter panischen Bemühungen, und spürte dicht hinter ihm die greifende Hand. Gefüllt mit Hass. Wie wahnsinnig. Nur diesem Ziel erpicht.
Aufschreiend packte ihn die Angst, mehr und mehr. Um ein Haar erwischte er ihn. Der Bahndamm, wenige Schritte von den beiden entfernt. Tobias wusste, wenn der große Junge ihn bekam, schlüge seine letzte Stunde. Wie kann jemand so mit Hass besäht sein.
Mit errötetem, schmerzverzerrtem Gesicht wollte der ältere Junge, humpelnd gebückt hinter ihm her. Soweit Tobias aufschaute war niemand da, der ihm zu Hilfe eilen konnte. Nur er und dieser Peiniger, bald hatte er ihn. Sogleich packte dieser ihn an seinem linken Hosenbein. Jetzt spürte Tobias seine ganze Wut. Lauthals und aus voller Brust schrie er auf und schnappte nach Luft. Ein Wechselbad zwischen Luftholen und schreien. Dieser große Junge gierte nach ihm, um seinen Hass zu stillen.
Der Schienenstrang zum greifen. Packend nach diesem zog Tobias sich näher heran. Dicht gefolgt von Großen.
Strampelnd und mit all seinen Kräften, zu der Tobias noch mobilisierend in der Lage war, spürte er ein Vibrieren des Stahls unter sich. Keiner der beiden achtete auf das Gleis, auf dem sie sich befanden. Der andere Schienenstrang greifbar in seinen Händen, hörte er eine weitere Stimme, die zu ihm rief und näher kam.
Ein Pfiff. Spürend zog eine kräftige Hand ihn über die Schiene ins steinige Gleisbett. Sein Puls raste. Von dem großen Jungen keine Spur.
Pulsierend nur das Geräusch und der gewaltige Schub des Windes, des vorüberfahrenden Zuges.
Tobias klammerte sich bebend an den Körper der Frau, die mit ihrem versuchte, ihn zu schützen. Das laute Getöse des bremsenden Zuges dröhnte in den Ohren. Tastbar nah packten die Bremseisen an den Stahlrädern der Zugachsen. Ein Krächzen. Tobias löste sich, da der Zug an Geschwindigkeit verlor und versuchte zwischen den Achsen unter dem Zug, auf die gegenüberliegende Seite zu schauen. Seine Augen erblickten die Bank. Weiter hinten den Holzzaun von der Pferdekoppel.
Von dem Verfolger fehlte jedoch jede Spur.
Rasend schnell war der Moment vergangen.
»Komm mein Junge. Wir gehen. Wie ist dein Name?«, fragte ein ältere Frau.
»I..Ich b..bin Tobias«, sagte er mit zittriger Stimme.
Sie half ihm auf. Die Steine unter Ihren Schritten rollten zur Seite. In seiner Hand hielt Tobias noch immer den Gegenstand.
Rasch ließ er ihn in der Hosentasche verschwinden.
»Du blutest ja Tobias. Dir wird gleich geholfen«, sagte sie.
»Es ist halb so wild«, sagte er. Der Fassung zurück gewinnend rieb er seine Hand, an seinem Hosenbein. Durch das Fallen hatte Tobias Schürfwunden bekommen.
In der linken Hand sah er deutliche Spuren des Verschlusses, an dem er gezogen hatte, damit sich der Ranzen von seinen Schultern löste. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wie es um den störenden, größeren Jungen stand.
Gestützt von der ihm unbekannten Frau liefen sie bis zum Bahnübergang, vor dem die Lok vorzeitig zum Stillstand kam.
Einige Fahrgäste blickten aus den Fenstern.
Ein Mann stieg aus dem Auto, der an der Schranke wartete.
»Man sollte die Eltern verständigen. Die müssen klar für diesen Spieltrieb des Jungen aufkommen. Hausarrest für mindestens drei Wochen würde ich ihm geben.«
»Halten Sie mal die Luft an. Sie wissen Doch gar nicht, was dem Jungen dazu bewegt hat.«, erwiderte der Lokführer, der ausgestiegen war und sich zu diesem herunter beugte.
»Geht es Dir gut?«
Tobias schaute ihn nur an und nickte.
»Dem Jungen geht es gut, denke ich.«, sagte die Frau. Tobias löste sich von der Frau und setzte sich in der Nähe des kahlen, hochgewachsenen Baumes.
»Ich habe alles aus meinem Füherhaus mit angesehen! »Was ist mit ...? Ist er noch auf der anderen Seite?«,
»Fragen Sie besser nicht. Ersparen Sie sich den Anblick.«
In diesem Augenblick kam der Schaffner,
»Einige der Fahrgäste habe ich erzählt, dass es ein Unbekannter auf dem Bahnübergang mit dem Zug anlegen wollte. Du ihn aber rechtzeitig gesehen hast. Sie glauben mir, hoffe ich. Ach ja, die Reste des Jungen liegen unter dem Zug. Soll die Polizei sich drum kümmern.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.
»Endlich hat es ein Ende«, sagte die Frau.
»Wie Darf ich das verstehen?«, fragte der Lokführer.
»Wir wohnen Dort in einem der Angrenzenden Häuser.
Von meinem Küchenfenster aus, habe ich das Auflauern des
Größeren oft gesehen. Wie oft hat er diesen Jungen gehänselt.«
Sie schaute herüber zu Tobias, der wenige Schritte an diesem Baumstamm lehnte. Straßen weiter ertönten Sirenengeläut von herannahenden Einsatzkräften. Tobias hatte sich unter den Baum gesetzt und dachte darüber nach, das er heute sicher schulfrei bekam. Ein Gefühl bestärkte ihm dabei. Die Gewissheit, dass sein Plan aufgegangen war. Nur eins noch war zu erledigen. Der Gegenstand, den er sich für diesen Tag ausgeborgte, musste zurück an seinem Ursprungsplatz. Noch vor dem Wochenende. Dann kam sein Vater von der Arbeit Heim. Und falls sein Papa auf die Idee kam, seine Kiste mit den Sammlerstücken zu betrachten, durfte dieser nicht fehlen. Unter Umständen blieb es unbemerkt. Denn zurechtlegend seiner Worte reihte er diese für seine Aussage in die richtige Reihenfolge. Und alles musste nicht gesagt werden. Wer würde ihn verdächtigen, dass die Aktion mit dem Gleisbett von ihm geplant war.