In einen dunklen Mantel gehüllt irrte Micheal durch die nächtlichen Straßen Ringbergs, eine 2500 Einwohner-Stadt. Bei Nacht war von diesen Einwohner jedoch kaum etwas zu sehen. Zumindest in den engen, dunklen Straßen, die er passierte. Er lief eiligen Schrittes, ja, rannte fast. Hier hatte er nichts verloren, das wusste er. Normalerweise überfog er die Städte und betrachtete alles aus einer höheren Perspektive, doch jetzt, verbannt und festgehalten in dem Körper eines Sterblichen, hastete er zu Fuß durch die Nacht. Er wusste nicht, wohin ihn seine Füße trugen, denn er war so schockiert, dass er kaum etwas um sich herum wahrnahm. Einmal musste er einem Auto ausweichen, dass er beim Straßenüberqueren aus dem Augenwinkel nicht gesehen hatte. Kälte drang durch seine Kleidung, ein Gefühl, dass ihm fremd war und ihm Angst einjagte. Die Erde war nicht sein Platz. Noch immer konnte er nicht fassen, dass er auf diesen Planeten verbannt worden war. Wirklich, er hatte versucht sein Bestes zu geben, aber offensichtlich war es nicht genug gewesen. Ein Versager, das war es, was er war. Er ließ den Koppf hängen. Doch was konnte er denn tun? Gott hatte dem Menschn schließlich den freien Willen gegeben, wie hätte er Thomas also aufhalten sollen? Er war so gedemütigt von dem Betrug seiner Frau gewesen und sein Leben war ohnehin deprimierend, wie hatte er ihn aufhalten können? Oder sie? Hätte er ihre Hochzeit verhindern sollen? Micheal schüttelte den Kopf. Er hatte geglaubt, Sybille würde Thomas glücklich machen. Sie war eine hübsche, gebildete, sympatische junge Frau.
In der Straße roch es entsetzlioch. Er hatte sich in eine enge Gasse verirrt, die nach Urin unbd Müll stank. Seine Nase war empfindlicher für ekelerregende Gerüche geworden und er spürte einen Würgreiz in ihm aufsteigen. Rasch eilte er weiter.
Micheal blieb stehen, als er ein Stechen in der Seite spürte, und sein Atem schneller ging. Er war außer Puste. Ungläubig starrte er an sich herab, wie, als ob etwas an ihm klebe. Noch nie in seinem Leben war er aus der Puste gewesen...
"Ungewohnt, nicht?", erklang da eine dunkle Stimme hinter ihm. Als er sich umwandte, erblickte er einen kleinen, gebückten, alten Mann in lumpiger Kleidung, der ihn aus hungrigen Augen angrinste.
Michael wich einen Schritt zurück - und schämte sich nur einen Engelaugenblick später diesen feigen Akt. Er wich zurück? Er? Doch hier, auf dieser Welt und an diesem Ort... wer konnte sagen, wie sich dieser Körper verhalten würde?
Es entstand ein Rascheln, als sich der in Lumpen gehüllte Mann gegen die Hauswand drückte und aufrichtete. Langsam, ganz vorsichtig, als wolle er sein Gegenüber nicht verschrecken, ging er auf Michael zu.
"Wer bist du?" überwandt sich dieser schließlich.
"Du kanst mich Ulli nennen." Er hustete keuchend. "Oder Uriel, dass überlasse ich dir. Es spielt jetzt keine Rolle mehr."
Bei dem Namen zündete irgendeine längst vergessenen Erinnerung in Michaels Erinnerungen. Früher, eigentlich nur vor einem Augenblick, aber letzendlich in einem anderen Leben, hatte ihm das gesamte Wissen des Universums zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung gestanden. Doch dazu war dieser Körper und sein Gehirn nicht in der Lage.
"Du..." Mehr fiel Michael nicht ein.
"Was denn, kist das alles? Keine göttliche Begrüßung? Nicht einmal ein Händedruck für deinen alten Kollegen? Wie wäre es dann mit einem Euro? Der würde mir auch helfen? Die Kippen sollen schon wieder teurer werden." Ulli sagte es, zog zur Bestätigung eine Packung Zigaretten aus einer Tasche und zündete sich dieser an. Erst dann bot er dem Gegenüber eine an. Doch der lehnte ab. "Davon bekommt man Lungenkrebs und stirbt."
"Schön wärs." knurrte Ulli hustend. "Aber so leicht ist für uns das Sterben nicht." In der Dunkelheit glühte die Zigarette auf.
"Was bist du?"
"Du erkennst mich wirklich nicht, oder? Verdammt, ich bin Uriel, der Sonnenengel. Ich wurde mit den anderen auf der Erde zurück gelassen, um den Garten Eden zu bewachen."
Michael sah sich um. Das Paradies schien von diesem Ort sehr weit entfernt zu sein...