Das alte Paar

Das alte Paar
Ein Konzert besonderer Art zu erleben wurde für mich in der Welt der Gärten, zur Zeit der IGA, ein unvergessliches Erlebnis. Diese einzigartig, kunstvoll errichteten Themengärten, eingebunden in eine wundervoll gestaltete Gartenlandschaft, entwickelten sich seit 1987 zu einer kulturellen Bereicherung des Stadtbezirkes Marzahn. Eine Freilichtbühne, wie ein Nest eingebettet in die Gartenwelt und dadurch fast unauffällig, wurde anlässlich der IGA ein weiterer kultureller Anziehungsmagnet. Ich mag eigentlich große Freilichtveranstaltungen nicht, sie geben mir das Gefühl der kulturellen Massenabfertigung. Aber diese Bühne wurde dem gesamten Gartenambiente sehr stilvoll angepasst, relativ klein und überschaubar gehalten. An diesem Sonntag gab die Staatskapelle Berlin, dirigiert vom berühmten Daniel Barenboim im Rahmen der Festveranstaltungen der IGA, ein Konzert. Es war ein sehr heißer Junitag. Wir hatten unsere Plätze bereits eingenommen, schwatzen noch und freuten uns auf den bevorstehenden Musikgenuss, als ich zwei Reihen vor uns ein wirklich altes Paar bemerkte. Meine Aufmerksamkeit wurde wohl deshalb geweckt, weil sie sich irgendwie anders verhielten. Beide schlohweißes Haar und bestimmt schon weit über achtzig, fielen mir nicht nur durch ihr sehr gepflegtes Äußeres auf. Es war irgendetwas ganz Besonderes, was mich so berührte. Beide waren etwa gleich groß, und dennoch wirkte sie klein und zerbrechlich. Geduldig bemühten sie sich durch die schon besetzten Stuhlreihen an ihre Plätze zu gelangen, wobei er sie liebevoll, wie beschützend, an der Hand führte. Sie ließ sich auch führen. Etwas ängstlich und unsicher hielt sie seine Hand fest. Als die Beiden endlich ihren Platz eingenommen hatten, sah er erleichtert zu ihr, gleichzeitig prüfend, ob es ihr auch gut ging. Sie blickte, wie mir schien, noch recht unsicher um sich, ließ seine Hand nicht los, als gäbe ihr das Sicherheit. Mit ihren wirklich schönen blauen Augen sah sie ihn ängstlich an, und er schaute mit so viel Liebe zurück, so dass in ihrem Gesicht ein glückliches Strahlen erschien. Die Beiden waren mit sich völlig allein und als hätte sie eine kleine Wolke eingehüllt, fiel wohl kaum jemanden ihre sonderbare Beziehung auf. Da saßen sie nun Hand in Hand und ich wusste plötzlich, was diese Beiden so einzigartig machte. Ich kannte diese vertraute Situation und eine wehmütige Erinnerung wurde in mir wach. Vor vielen Jahren, ich war noch jung und die Kinder klein, saßen meine Eltern so ähnlich auf der Terrasse unseres Bungalows. Mama hielt ebenfalls die vertraute Hand meines Vaters fest. Sie fühlte sich unsicher in der für sie plötzlich fremden Umgebung, und nur er gab ihr die so wichtige Sicherheit. Auch er lächelte sie an, streichelte sie zärtlich und sie strahlte glücklich. Alzheimer heißt diese bösartige Krankheit, die die Erkrankten in eine unbekannte Welt schickt. Ganz allmählich schloss sich für meine Mutter die Tür zu unserer Welt, wodurch es ihr immer weniger möglich wurde, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Nur Vaters unerschütterliche Liebe, begleitet von Güte und Geduld, ermöglichte ihr wenigstens eine Teilhabe. So konnte auch meine Mutter noch viele Jahre an unserem Leben teilhaben. Es war sehr schmerzlich zu erleben, wie man die Mutter allmählich verlor, obwohl sie körperlich anwesend war. Sie, die mit dem Vater in der Nachkriegszeit unter großen Entbehrungen sechs Kinder groß gezogen, die eigene Mutter zwei Jahre gepflegt, sich dann noch um die Schwester der Mutter gekümmert hatte, weil sie es nicht übers Herz brachte, sie in ein Heim zu stecken, sie, die Großvater im Winter mit in unsere viel zu kleine Wohnung ziehen ließ, damit seine von Gicht geplagten Knochen es warm hatten, brauchte nun selbst viel, viel Liebe und Verständnis. Diese starke Frau, die kein Klagen kannte, überdurchschnittlich fleißig war, sich keinen Burnout leisten konnte, sich zu uns Kindern stets liebevoll und fürsorglich verhielt, schöpfte ihre bewundernswerte Kraft aus der Freude, dass Vater und sie diesen furchtbaren Krieg gesund überlebt hatten. Nun war sie im Alter plötzlich so hilflos, musste in einer anderen Welt leben, die keine Verbindung mehr zu der unsrigen hatte. Vater erkannte sehr schnell, was da ganz langsam, aber auch endgültig geschah und fand einen einfühlsamen Weg, um mit ihr einträchtig zu leben. Er wusste, dass er sie nie mehr zurückholen konnte und ein ständiges Auffordern, dass sie verstehen solle, was um sie herum geschah, würde sie verzweifeln lassen. Ihr vertraute Augenblicke, die ihr schon immer Freude bereitetet hatten, erlebte und fühlte sie noch sehr intensiv, sie waren fest in ihrem Kopf verankert. So stellte sich mein Vater auf ein sonderbares Leben mit unserer Mutter ein. Wir Kinder unterstützten ihn so gut es ging, besonders meine Schwester, die in ihrer Nähe wohnte. Der langsame Abschied von der Mutter, die uns groß gezogen hatte, die uns immer beschützte, die wir liebten, war unendlich schmerzlich. Allmählich akzeptierten wir ihre Krankheit mit allen Folgen. Uns ging es nur noch darum, sie nach Möglichkeit nicht in ihrer Welt zu stören und dadurch zu ängstigen, aber alles zu tun, sie glücklich und zufrieden sein zu lassen. So hörten wir ihr geduldig zu, auch wenn wir die Inhalte nicht mehr so recht verstanden, waren oft ihre Freunde aus Kindertagen, wenn sie plötzlich in ihre eigene Vergangenheit eintauchte. Wir lauschten ihren und uns so vertrauten Liedern auf der Mundharmonika, freuten uns, wenn sie mit uns lachte und sich wohl fühlte. Das war die Zeit, wo Vater auch mal Zeit für sich und seine Freunde hatte und Kraft schöpfen konnte. Es war schön mit ihr zusammen zu sein, sie blieb eben unsere Mutter.
Während des Konzertes beobachtete ich unaufhörlich dieses alte Paar, wie beide so verzückt der Musik lauschten. Es war als ging ein inneres Strahlen und ein solcher Frieden von ihnen aus, der mich die wunderschönen Klänge der Musik noch stärker empfinden ließ. Ab und zu schaute er etwas besorgt zu ihr, sich vergewissernd, dass sie sich auch wohl fühlte. Mir schien, im Vordergrund stand für ihn ihre Freude, nur so konnte auch er dieses wundervolle Konzert genießen. Da saßen nun zwei alte Menschen, von der Musik spürbar berührt, Hand in Hand vor mir, als wären es meine Eltern.
Es ist doch erstaunlich, wieviel Schönheit von solch einem seltsamen Paar ausgeht und ich wünschte mir, dass nicht nur ich ihre einzigartige Beziehung bemerkte.

LydiaLydia

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0 Activity: 0%, Views: 1613, Language: German, 85 months ago